von Felix Menzel vom 20. Januar 2022.
Seit fast zwei Jahren hält er nun schon an: der Ausnahmezustand. Die Proteste dagegen werden größer und die Maßnahmen der Regierung immer willkürlicher. Zuletzt sorgte die Posse um die Verkürzung des Genesenenstatus selbst bei regierungsnahen Journalisten für Kopfschütteln. Bei der 3G-, 2G-, 2G-Plus-Kürzelpolitik sieht zudem niemand mehr so genau durch. Es kommt daher im Alltag fast automatisch zu Ungehorsam, auch wenn er nur versehentlich geschehen sollte.
Ob aber tatsächlich ein neues Zeitalter der „Corona-Diktatur auf Widerruf“ (Alexander Gauland) anbricht, darf bezweifelt werden. Denn das, was heute geschieht, erinnert z.B. fatal an die Schilderungen von Thomas Mann im Roman Der Zauberberg von 1924. Mann skizzierte darin meisterhaft, wie der Unterschied zwischen „gesund“ und „krank“ Stück für Stück durcheinandergewirbelt werden kann. Es entsteht so eine Gesellschaft, die heilen will, aber krank macht. Der Alltag im Sanatorium auf dem Zauberberg bestand aus „Messen, Essen, Liegen“, heißt es an einer einprägsamen Stelle. Heute ist daraus „Testen, Impfen, Netflix, Home Office“ geworden.
Eine weitere Parallele betrifft die Zeit: Der Protagonist aus dem Zauberberg, Hans Castorp, ging zunächst von einem dreiwöchigen Besuch aus, ehe er unter dubiosen Umständen selbst zum Patienten wurde, der nie schwerwiegend krank war, aber eben auch nie richtig gesund werden sollte. Die verordneten Liegekuren wurden somit immer wieder verlängert und der bange Blick auf die Quecksilbersäule des Fieberthermometers zum absurden Ritual.
Neben Thomas Mann nahmen auch andere Seismographen schon damals ein gestörtes Verhältnis zur Gesundheit wahr. Der Philosoph Karl Jaspers betonte in Die geistige Situation der Zeit (1931), der moderne Mensch „flieht“ in Krankheiten. „Ärztliche Behandlung wird weit über das medizinisch-wissenschaftlich Sinnvolle hinaus beansprucht.“ Welchen Hintergrund könnte das haben? Jaspers präzisierte später: „Die Angst vor dem Sterben ist die vor der körperlichen Qual.“ Und: „Die Angst vor dem Tode ist Angst vor dem Nichts.“
Die heutige Corona-Angst könnte also maßgeblich etwas damit zu tun haben, daß wir unfähig geworden sind, die Sinnfrage des Lebens für uns in einfachen Worten zu beantworten und es nicht mehr gewöhnt sind, uns anstrengen zu müssen. Aber Qualität kommt eben von Qual. Ohne Schweiß kein Preis. Das mag banal klingen. Gesagt sein soll damit jedoch nur: Die Bereitschaft, Anstrengungen, Risiken und womöglich sogar tödliche Gefahren auf sich zu nehmen, tendiert in unserer Gesellschaft gegen Null. Genau das ist eines ihrer Hauptprobleme.
In seinen äußerst abwechslungsreichen Tagebuchaufzeichnungen reflektiert Heimo Schwilk unter anderem, ob die Deutschen seit dem Dreißigjährigen Krieg ein „Religionskriegsvolk“ sind, das ständig neue moralistische Debatten erfinde und so eine innere Spaltung hervorbringe. Waren es früher Katholiken und Protestanten, die sich gegenüberstanden, und bis vor einigen Jahren die „Refugees welcome“-Fraktion sowie Einwanderungskritiker, sind es heute anscheinend Geimpfte und Ungeimpfte, ließe sich argumentieren.
Diese Deutung und die Spaltungsmethaper ignorieren nur eins: Es handelt sich keineswegs um einen Riß, der durch die Mitte der Gesellschaft geht. Der Regierung gelingt es vielmehr im Zusammenspiel mit den Massenmedien in fast allen aktuellen Streitfragen sehr einfach, durch entsprechende Propaganda eine breite Mehrheit für ihre Position zu mobilisieren. Danach geht sie trotz des omnipräsenten Gefasels über Diversity gegen die verbliebene Meinungsminderheit vor.
Wer sich in einer Meinungsminderheit befindet, steht so schnell vor der Entscheidung, ob er aus Angst vor sozialer Isolation zur Mehrheit wechseln sollte oder sich zur Radikalisierung treiben läßt. Spätestens seit Unterwerfung (2015) scheint Michel Houellebecq hier die entscheidende Konfliktlinie zu sehen. Auch in seinem neuen Roman mit dem Titel Vernichten spielt diese Konstellation eine entscheidende Rolle: Houellebecq stellt in seinen Romanen identitätsüberdrehte, (zivil-)religiöse Extremisten einer axsexuellen, atheistischen und lethargischen Funktionselite gegenüber.
Das Dilemma dabei: Dieser Kampf kann kein gutes Ende nehmen. Es gewinnen immer die Falschen. Müssen wir also, bevor wir uns verkämpfen, auf die Couch? Ja, solange die Psychotherapie daran arbeitet, jede Flucht in die Krankheit von Vornherein zu unterbinden.
Friedrich Pohlmann: Das Reich der großen Lüge
Friedrich Pohlmann, Soziologe und TUMULT-Autor, geht auf die geistigen Auszehrungsprozesse und ideologischen Umerziehungsprogramme ein, die die Deutschen zu den Entmutigern ihrer selbst gemacht haben. Es geht um Vaterlosigkeit, 1968, das Elend der Utopien, Verschwörungen in Theorie und Praxis, Mut, Feigheit sowie um die Frage, wie im 2. Corona-Jahr kollektiver Widerstand nicht nur notwendig, sondern auch möglich werden kann. Das große finstere Etwas, das uns beständig Angst machen will, bekommt endlich Kontur.