Felix Menzel im Gespräch mit Frank Böckelmann.
Frank Böckelmann ist nicht nur Herausgeber der Vierteljahresschrift TUMULT. Aus seiner Feder stammen auch einige Bücher (Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen / Jargon der Weltoffenheit), in denen es ihm gelungen ist, die zivilreligiösen Dogmen der Gegenwart gekonnt zu ignorieren. In diese Kategorie fällt auch das Buch Risiko, also bin ich. Von Lust und Last des selbstbestimmten Lebens (2011).
Da Böckelmann seit fast einem Jahr nun selbst zur „Risikogruppe“ zählen wird und noch dazu in einem Risikogebiet (Hotspot) leben muss, haben wir ihn gefragt, wie er damit zurechtkommt und was passiert, wenn der Staat zwischen Größenwahn und Übervorsicht schwankt.
Manuscriptum: Sehr geehrter Herr Böckelmann, neuerdings dürfen wir uns nur noch mit einem Freund treffen und sollen uns an eine Auslaufzone von 15 Kilometern halten. Wie sehr schmerzt Sie diese Entmündigung? Oder allgemeiner gefragt: Wie dramatisch muss ein Ausnahmezustand sein, damit derart restriktive Vorwegnahmen der individuellen Risiko-Abwägungen der Bürger legitim werden?
Frank Böckelmann: Mich persönlich schmerzt die Ausgangssperre gegenwärtig nicht, denn die Arbeit fesselt mich ohnehin an den Schreibtisch, und ich kann telefonieren und mailen, und meine Frau ist passionierte Köchin. Aber gesetzt den Fall, ich hätte eine überregionale Liebesaffäre, oder gesetzt den Fall, eine wichtige Vereinbarung mit einem Geschäftspartner außerhalb der Zone stünde vor dem Abschluss, würde ich leichten Herzens gegen die Verordnungen des Freistaats Sachsen verstoßen.
Ich sage Ihnen, warum. Die vom Corona-Virus ausgehende Gefahr ist abstrakt, das heißt, permanent erklärungsbedürftig, und die Schutzmaßnahmen von Land und Bund erscheinen mir willkürlich. Im Ernstfall, wenn etwas Grundstürzendes geschieht wie seinerzeit 2015 und kürzlich 2020, ziehen sich unsere Regierungen auf die höhere Ebene zurück. Sie vollziehen einen Kurzschluss zwischen Hypermoral und Ökonomie, zwischen schönen leeren Postulaten und den globalen Mächten: den Konzernen, flankiert von Welthandelsorganisationen und EU.
Ihren eigenen Bürgern gegenüber schwanken sie zwischen Populismus und Überreaktion, reißen alle paar Wochen das Steuer herum, wollen dem Wahlvolk um jeden Preis suggerieren, sie hätten die Lage unter Kontrolle. Sie sind vor allem um ihren Nimbus in der Bevölkerung besorgt. Alles wird zum Vermittlungsproblem, zu einer Frage der Public Relations, zur „Herausforderung“. Zu dem, was vor sich geht, haben sie nur ein Verhältnis um drei Ecken herum. Das meine ich, wenn ich sage: Die Bundesregierung steht mit der Realität grundsätzlich auf Kriegsfuß.
Ich bin daher gezwungen, selbst einzuschätzen, wie dramatisch die Lage ist und inwieweit ich den Anordnungen Folge leisten sollte. Natürlich gehe ich bestimmte Risiken ein, wenn ich die Regeln verletze. Aber auch das Einhalten der Regeln ist riskant. Ich muss also zwischen verschiedenen Risiken abwägen.
Bei dieser Abwägung verschiedener Risiken laufen wir aber doch geradewegs in eine Falle: Insbesondere an den Finanzmärkten und mit Blick auf unsere leichtsinnige bzw. vermutlich sogar größenwahnsinnige Energiepolitik gilt anscheinend „No risk, no fun“. Zugleich verfällt die Masse der Menschen in unserem Land der vielzitierten „German Angst“, sobald ein neues Horrorszenario an die Wand gemalt wird. Woher kommt diese deutsche Übervorsicht bei gleichzeitiger Blindheit für andere Gefahren?
Frank Böckelmann: Man sollte bei historischen Vergleichen Vorsicht walten lassen, aber vermutlich sind die Deutschen heute nicht weniger geängstigt und eingeschüchtert, als sie es im Dreißigjährigen Krieg und während der Nazi-Zeit und zu DDR-Zeiten gewesen sind – nur auf andere Weise. Der Einzelne hat die Orientierung verloren, die ihm einst das Christentum gegeben hat, die Wertschätzung preußischer und bürgerlicher Tugenden oder später der Sozialismus oder die Psychoanalyse. Die Autoritäten, Kirchen und Institutionen haben abgedankt oder wurden entmachtet oder haben ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Niemand steht dem Einzelnen mehr zur Seite.
Das ist keine Kulturkritik. Es gibt ja kein Zurück. Aber dieser Befund geht weit hinaus über die Befunde von Ulrich Beck in seinem Buch Risikogesellschaft von 1986. Beck spricht von der Enttäuschung über den erhofften Fortschritt durch Modernisierung. Die Menschen haben sich entsolidarisiert und alle Sicherheiten verloren, einschließlich der tradierten sozialen Rollen. Becks Thema ist die Individualisierung sozialer Ungleichheit.
Am Ende der Industriegesellschaft hat jeder Einzelne seine existentiellen Risiken selbst zu tragen. Mittlerweile ist die Ökonomisierung des Alltags total geworden, und im Zusammenhang damit hat der Einzelne seinen sozialen Kompass verloren. Das macht Angst, insbesondere den Deutschen, die ja aus ihrer nationalen Zugehörigkeit, aus Herkunft und Geschichte keine Zuversicht gewinnen dürfen. Im Gegenteil, sie sollen ihr Schuldpaket tragen und Buße tun, und mit zunehmendem Abstand von 1945 tut unser Medien- und Parteienkartell täglich einiges, um das Paket immer schwerer zu machen.
Die Filtersysteme sind verschwunden, die Vermittler zwischen Hier und Überall, zwischen dem Einzelnen und dem Globalen. Niemand sagt mir mehr, was ich bin und wert bin, keine Klassen- oder Regionalkultur, kein Milieu, keine Nachbarschaft. Die Dauerbeschallung mit „westlichen Werten“ kann meine Desorientierung nicht wettmachen, denn „Chancengleichheit“, „Toleranz“, „Vielfalt“, „Weltoffenheit“ und „Demokratie“ sind heute Leerformeln, rein funktionale Verkehrs- und Teilnahmeregeln.
Was die deutsche Bundesregierung betrifft, so ist das charakteristische Schwanken zwischen Bedenkenlosigkeit und Betulichkeit ebenfalls Ausdruck jener umfassenden Desorientierung. Man versucht die Orientierungslücke mit humanitärem Universalismus und mit Botmäßigkeit gegenüber den Interessen der ökonomischen Weltmächte zu schließen – mit Menschenrechten, Multilateralismus, Migrationspakt, Milliardärssozialismus. Jede Krise wird als moralische Grundsatzfrage und zugleich als Absatz- und Auftragspotenzial aufgefasst, und jedes Mal wird die deutsche Schuldangst angeheizt. Statt nationaler Politik haben wir Horrorszenarios und Hysterie.
Aufgrund dieser hysterischen Dauerbeschallung bevorzugen es viele Deutsche, den Mund zu halten, obwohl sie innerlich andere Empfindungen haben. Wie riskant ist es heute, seine eigene Meinung zu sagen? Und warum sollten wir trotz aller negativen Umstände dieses Wagnis eingehen?
Frank Böckelmann: Wer im Schleudergang der täglichen Gehirnwäsche seinen eigenen Realitätssinn bewahrtund ihmAusdruck verleiht, lebt in Deutschland gefährlich. Er riskiert üble Nachrede und Anfeindung am Arbeitsplatz und im Familienkreis und, wenn er sich politisch äußert, auch in den Regulierungsmedien. Ein Großteil seiner Freunde und Verwandten könnte sich von ihm abwenden. Nicht selten wackelt seine berufliche Stellung oderer verliertAufträge und Klienten.
Hält er aber den Mund, geht er ebenfalls immense Risiken ein. Er fristet sein Dasein als gespaltene Persönlichkeit. Auf die Dauer wird er darauf verzichten, wenigstens im privaten Raum seine Gefühle von der Leine zu lassen, denn die Ahnung von Bigotterie zehrt am Selbstwertgefühl. Gewöhnlich arrangiert er sich mit der Meinungsübermacht und hält sich an die Sprachregelung. Man unterschätze nicht die Folgen ständiger narzisstischer Kränkung!
Ich spüre, dass ich eine Knechtsseele bin. Das kompensiere ich zwar mit Verhöhnung der Diffamierten, aber ich verliere die Erfahrung von Zugehörigkeit, Orts- und Raumbindung, Herkunft, Schicksalsgemeinschaft, möglichem Lebenssinn. Dies alles spielt sich meist im Vorbewussten ab. Wem es bewusst wird, der riskiert lieber den Konfliktals die Selbstachtung.
Vielen Dank für das Gespräch!
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Frank Böckelmann: Die Gelben, die Schwarzen, die Weissen.
Frank Böckelmanns Aufsehen erregende Studie über die gegenseitige Wahrnehmung und Fremdheit von „Gelben“, „Schwarzen“ und „Weißen“ ist 1998 in Hans Magnus Enzensbergers „Die Andere Bibliothek“ erschienen, war lange Zeit vergriffen und liegt nun in einer erweiterten Neuausgabe – mit Stellungnahme des Autors zur gegenwärtigen Lage – endlich wieder vor.