Von Felix Menzel vom 2. November 2020.
Seit einigen Monaten steht der italienische „Starphilosoph“ Giorgio Agamben „unter Wutbürger-Verdacht“ (Spiegel). Hat sich hier etwa einer der klügsten Köpfe Europas unter dem Eindruck des Hausarrests radikalisiert? Ist er vom Gutmensch zum Corona-Leugner mutiert? Vom Verteidiger humanen Handelns zum achselzuckenden Beobachter, der Millionen Tote billigend in Kauf nimmt?
Ein Rundgang bei Twitter vermittelt genau das: Ein Nutzer, der sich Kautsky nennt, wirft wütend ein, er werde es Agamben „nie verzeihen“, die „Argumente der Coronakritiker:innen“ (sic!) übernommen zu haben. Ein katholischer Sozialist bemängelt das „apokalyptische Denken“ des Philosophen und ein „Stefan Adorno“ greift zur wirkmächtigsten Keule der Diskursverengung, indem er Agamben unterstellt, „Nazis wie Heidegger und Schmitt“ zu retten.
Was ist geschehen? Eigentlich nichts. Giorgio Agamben hat einfach nur ein paar Mal, z.B. in diesem Essay, den die NZZ vor wenigen Tagen abdruckte, seine seit 20 Jahren bekannte These von der Einschreibung des nackten Lebens in die Politik wiederholt. Bis zum Ausbruch von Corona fanden das linke Kreise äußerst chic. Mit Verweis auf Agamben konnten sie Parallelen zwischen Konzentrations- und Flüchtlingslagern zeichnen. Sie konnten einen Kampf zwischen repressiven Staaten und der friedlichen Menschheit konstruieren und fanden schnell ein paar Fetzen zugespitzter Kapitalismuskritik.
Hinzu kommt: Agambens Gesellschaftsutopie der Auflösung homogener nationaler Territorien fand natürlich Anklang. So viel, daß es entbehrlich erschien, seine theologischen und philosophischen Gedankengänge nachzuvollziehen. Im Zentrum seines Denkens steht die auf die alten Griechen zurückgehende Unterscheidung zwischen „zoe“ und „bios“. Der erste Begriff bezeichnet die „einfache Tatsache des Lebens“. „Bios“ indes geht über die biologischen Grundlagen hinaus und meint jene „Art und Weise des Lebens, die einem einzelnen oder einer Gruppe eigen ist“.
Agamben vertritt nun die Meinung, daß mit den „Erklärungen der Menschenrechte von 1789“ das bloße natürliche, nackte Leben „in die rechtlich-politische Ordnung des Nationalstaats“ hineingezogen wurde, während dieser Bereich vorher im Ancien Régime„Gott angehörte“ und es in der Antike noch die Trennung zwischen dem nackten (zoe) und dem politischen (bios) Leben gab.
Die Konsequenz ist folgende: „Wenn Leben und Politik, die ursprünglich voneinander getrennt und durch das Niemandsland des Ausnahmezustands miteinander verbunden waren, dazu tendieren, identisch zu werden, dann wird alles Leben heilig und alle Politik Ausnahme“, so Agamben in seinem Hauptwerk Homo sacer (1995), das eindrucksvoll beschreibt, warum das Einreißen der Wand zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit „lebende Tote“ hervorbringt.
Etwas einfacher ausgedrückt: Sobald der Schutz des nackten Lebens zum alternativlosen Primat der Politik erklärt wird, müssen alle Kulturen, Religionen, Ideologien und individuellen Bedürfnisse weichen. Kontaktverbote zertrümmern dabei auch noch die letzten Gemeinsamkeiten des reinen Begegnens. Der Mensch verliert damit seine besondere, einzigartige Stellung und kann nur noch vor sich hin leben, statt sein Leben mit einem bestimmten Sinn auszufüllen.
Deshalb schreibt Agamben in seinem NZZ-Artikel alarmistisch: „Das nackte Leben zu regieren, ist der Wahnsinn unserer Zeit.“ Wir stünden jetzt in einem brennenden Haus. „Vielleicht hatte das Feuer jedoch schon viel früher begonnen, als der blinde Drang der Menschheit nach Heil und Fortschritt sich mit der Kraft von Feuer und Maschinen verband“, heißt es außerdem in dem Essay.
Agamben hat sich also keineswegs radikalisiert. Im Gegenteil: Während er 1993 in „Jenseits der Menschenrechte“ den Beginn des Feuers auf 1789 datierte, wirft er nun – vermutlich aus Angst vor der Cancel Culture – lieber eine Nebelkerze, weil er weiß, daß Kritik an der Industriellen Revolution unverfänglicher ist als die scheinliberale Moderne in toto anzugreifen.
„Agamben vertritt nun die Meinung, daß mit den „Erklärungen der Menschenrechte von 1789“ das bloße natürliche, nackte Leben „in die rechtlich-politische Ordnung des Nationalstaats“ hineingezogen wurde“- das ist nun wirklich eine Meinung, die eines Philosophen UNWÜRDIG ist. Die Behauptung des nackten Daseins gegen die Hölle des Naturstandes wurde von THOMAS HOBBES (1588-1679) zur Grundlage der POLITISCHEN GESELLSCHAFT des absolutistischen Staats, kurz des modernen Gemeinwesens, in welchem die Gesellschaft den Weg in die Zivilisation weist, gemacht. Das ist deshalb ein Grundzug aller unserer heutigen Staaten und Gesellschaften.