im Gespräch mit Professor Lothar Fritze vom 2. Februar 2022.
Häufig genug wurde beklagt, Deutschland betreibe eine von Jahr zu Jahr exzessivere Vergangenheitsbewältigung. Professor Lothar Fritze blickt indes ganz anders und weitaus origineller auf die bleibende Relevanz des Nationalsozialismus. Der Politologe behauptet, dem Nationalsozialismus und Kommunismus würden ideologische Auffassungen zugrunde liegen, die bis heute das Ringen um Nation und Weltrepublik dominieren. Wie er darauf kommt und wie er es genau meint, erklärt er ausführlich in seinem neuen Buch und in dem folgenden Gespräch.
Manuscriptum: Sehr geehrter Professor Fritze, Sie stellen in Ihrem neuen Buch über „Kommunismus und Nationalsozialismus“ die gewagte These auf, der „gegenwärtige Kulturkampf“ sei die „modifizierte Fortsetzung“ der maßgeblichen ideologischen Auseinandersetzung des 20. Jahrhunderts. Wie kommen Sie darauf?
Lothar Fritze: Jeder, der über das menschliche Leben und das Zusammenleben von Menschen nachdenkt, wird auf Fragen stoßen, die unterschiedliche Antwortmöglichkeiten zulassen. Solche Fragen sind etwa, ob es nur menschliche Individuen gibt oder ob auch Gemeinschaften eine Art realer Existenz haben; ob nur Individuen schützenswert sind oder ob es auch Gruppen, Kollektivwesen, wie etwa Familien, Stämme oder Völker zu schützen gilt; ob es legitim ist, dass wir in erster Linie für uns selber und unsere Gruppe sorgen, oder ob wir moralisch verpflichtet sind, sämtliche Entscheidungen, die auch andere Menschen berühren oder berühren könnten, unter dem Gesichtspunkt der Unparteilichkeit zu treffen.
Die Antworten, die wir auf diese und weitere Fragen geben, schlagen sich in politischen und moralischen Auffassungen nieder, und diese wiederum geben die Richtung vor, in der die Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme gesucht wird.
Ich behaupte nun erstens, dass es zum Zwecke des Verständnisses der geistigen Situation der Zeit sinnvoll ist, zwischen zwei konträren politisch-moralischen Grundauffassungen beziehungsweise Grundorientierungen zu unterscheiden, zweitens, dass sich diese prinzipiellen, idealtypisch zu verstehenden Grundorientierungen in politischen Kämpfen wiederspiegeln, und drittens, dass dieselben konträren Grundorientierungen, die den Kulturkampf der Gegenwart prägen, auch den geistigen und politischen Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus zugrunde lagen.
Könnten Sie das näher erläutern?
Nehmen Sie die Nationalsozialisten. Für sie, die eine kollektivistische Grundauffassung vertraten, waren Völker über Generationen hinweg existierende, mit sich selbst identisch bleibende Abstammungsgemeinschaften. Deutsche Nationalsozialisten hielten das deutsche Volk – und zwar sowohl als Angehörige dieses Volkes als auch aufgrund der ihm zugeschriebenen Leistungsfähigkeit – für unbedingt erhaltenswert. Viele Konservative der Gegenwart würden dem zustimmen. Kommunisten hingegen kämpfen als Anhänger der individualistischen Grundauffassung für eine Weltrepublik, in der sich Ethnien, Rassen und Kulturen vermischen und allmählich auflösen und letztlich nur Individuen, die „assoziierten Produzenten“ (Marx), leben. Viele Vertreter der derzeit dominierenden global denkenden und antinational eingestellten Elite folgen genau dieser Zielstellung.
Oder: Die Ideologen des Marxismus-Leninismus sowie des bolschewistischen Regimes erstrebten eine klassenlose und egalitäre Gesellschaft, in der die Interessen aller Menschen und – solange es sie noch gibt – aller Völker gleichermaßen berücksichtigt werden. Sie waren Vertreter der universalistischen Grundauffassung. Ihnen folgen heute all jene, die das Prinzip der gleichen Interessenabwägung akzeptieren – nämlich die Forderung, dass gleiche Interessen in gleichem Maße berücksichtigt werden müssen, egal um wessen Interessen es sich handelt.
Die Nationalsozialisten hingegen unterstellten ein natürliches Recht jedes Volkes, seine eigenen Interessen bevorzugt zu realisieren und sich selbst zu behaupten. Wer heute beispielsweise für ein Recht souveräner Staaten eintritt, über die Einreise, das Aufenthaltsrecht und die Staatszugehörigkeit selbst entscheiden zu können, befindet sich auf demselben Pfad einer partikularistischen Grundorientierung, der auch von den Nationalsozialisten beschritten wurde. Es wäre aber unangemessen, ihn deshalb als „nazistisch“ zu deklarieren. Universalisten hingegen treten für eine weltweit unbeschränkte Niederlassungsfreiheit ein oder fordern, Gemeinschaftsfremden beziehungsweise Ausländern das Recht einzuräumen, über die Regeln der Einwanderung etc. gleichberechtigt mit entscheiden zu können.
Auch im Kulturkampf der Gegenwart geht es um eine ideologische Richtungsentscheidung. Wer diesen Kampf begreifen will, sollte sich mit den Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert vertraut machen. Es handelt sich um dieselbe epochale Auseinandersetzung zwischen zwei konträren politisch-moralischen Grundorientierungen – nämlich der individualistischen und universalistischen auf der einen und der kollektivistischen und partikularistischen auf der anderen Seite.
Wo bleibt in Ihrer Theorie der Liberalismus? Vermutlich würden sich viele Liberale mit Händen und Füßen gegen die Behauptung wehren, sie seien insgeheim Kommunisten. Zudem ließe sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts ja auch dahingehend interpretieren, dass der Liberalismus sowohl den Kampf gegen den totalitären Nationalsozialismus als auch den wirtschaftlich nicht überlebensfähigen Kommunismus gewonnen hat.
Dass Liberale insgeheim Kommunisten sind, würde ich nicht sagen. Liberale sind Vertreter der individualistischen, aber nicht, wie jedoch Kommunisten, der universalistischen Grundauffassung. Beide Grundauffassungen sind zwar logisch unabhängig voneinander, werden aber häufig gemeinsam vertreten. Liberale können sich durchaus mit einer Weltrepublik der Individuen abfinden. Und auch für Kommunisten ist die Entfaltung der Persönlichkeit ein hoher Wert. Es gibt also weltanschauliche Überschneidungen. Dies erleichtert es, dass Liberale und Sozialisten/Kommunisten Zweckbündnisse auf Zeit schmieden. Denken Sie an die Anti-Hitler-Koalition. Bevor der liberale Westen den Kampf gegen den Kommunismus gewonnen hat, verbündete er sich mit kommunistischen Herrschern, die durch einen Putsch an die Macht gekommen waren, gegen den Nationalsozialismus.
Dafür mag es viele Gründe gegeben haben, insbesondere auch machtpolitische. Dieses Bündnis mit dem totalitären System Stalins kam aber zustande, obwohl man sich im Westen über den verbrecherischen Charakter dieses Regimes keinen Illusionen hingab. Das Verhältnis der bis zum Kriegsausbruch 1939 von Kommunisten und Nationalsozialisten Ermordeten wird heute von Historikern auf 1000 zu 1 geschätzt (wobei Ersteren dafür 16 Jahre mehr Zeit zur Verfügung stand). Oder denken Sie an die – wenigstens auf den ersten Blick – verblüffende Allianz zwischen Wirtschaftseliten und Linken, die wir in den Kämpfen der Gegenwart beobachten können. Auch hier gibt es – beispielsweise in Bezug auf Einwanderung – Interessenübereinstimmungen.
Lassen Sie uns einmal kurz bei den Verbrechen von Nationalsozialisten und Kommunisten bleiben. Mit Ihrer Argumentation betreten Sie bewusst vermintes Gelände. Und ist mit Ihrem Vergleich nicht auch eine gewisse „Relativierung“ der Verbrechen verbunden? Wie meinen Sie das genau und warum ist es Ihrer Meinung nach notwendig, dieses heiße Eisen anzufassen?
Der Ausdruck „‘Relativierung‘ der Verbrechen“ ist ungenau und leicht missdeutbar. Eine Relativierung ist das unvermeidliche Ergebnis jeder In-Beziehung-Setzung von Handlungen oder Ereignissen, und eine In-Beziehung-Setzung ist mit jedem Akt des Vergleichens verbunden. Der Vergleich wiederum ist eine wichtige Methode der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften.
Der erwähnte quantitative Vergleich der (bis zu einem bestimmten Zeitpunkt) von Kommunisten und Nationalsozialisten verübten Verbrechen ändert nichts an ihrer Beurteilung. Ein Mord wird nicht dadurch weniger verwerflich, dass auch andere gemordet haben. Ein inakzeptables politisches System gewinnt nicht durch die Feststellung an Legitimität, dass es auch andere illegitime Systeme gibt. Es geht also nicht um eine Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus. Vielmehr soll die Erwähnung dieser geschichtlichen Tatsache eine Irritation auslösen. Ich glaube, es geht kein Weg an der Einsicht vorbei, dass dieses Bündnis zwischen liberalem Westen und kommunistischem Bolschewismus keine Selbstverständlichkeit war, sondern durchaus erklärungsbedürftig ist.
Trotzdem möchte ich Ihrer Frage nicht ausweichen, denn sie zielt auf einen Punkt, der für das Verständnis der öffentlichen Kommunikation, ja der geistigen Situation in unserem Land, zentral ist.
Die nationalsozialistische Ideologie ist eine mögliche, aber keineswegs logisch-notwendige Konkretisierung der kollektivistischen und partikularistischen Grundorientierung. Das heißt, man kann an dieser Grundorientierung festhalten, ohne deshalb ein verkappter „Nazi“ zu sein; man kann Positionen vertreten, die auch von Nationalsozialisten vertreten wurden, ohne deshalb ein Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie zu sein – denn nicht alle von Nationalsozialisten vertretenen Positionen sind Bestandteil jenes Ideengebäudes, das wir als „nationalsozialistische Ideologie“ bezeichnen.
Wer etwa der Meinung anhängt, dass auch in unserer Zeit Nationalstaaten die bestmögliche staatliche Organisationsform verkörpern und Deutschlands Entwicklung zu einer multikulturellen Gesellschaft Konflikte heraufbeschwört, die man vermeiden sollte, vertritt Anschauungen, die von den Nationalsozialisten geteilt wurden oder geteilt worden wären, die aber deshalb nicht „nationalsozialistisch“ sind. Genau dieser Kurzschluss wird der Öffentlichkeit aber permanent präsentiert. Eine linke und sich als linksliberal missverstehende Elite versucht den Eindruck zu erwecken, mit jedem Eintreten für die Bewahrung der eigenen Kultur und der eigenen Art zu leben wandele man auf den Spuren von Hitler und Himmler.
Die das Land dominierende politisch-mediale Elite ist nicht mehr bereit, das partielle Recht auch der kollektivistischen und partikularistischen Grundorientierung anzuerkennen. Der „Kampf gegen rechts“ (statt „gegen Rechtsextremismus“) ist Ausdruck einer Strategie, die darauf abzielt, konservative Positionen in das Reich des Undenk- und Unsagbaren zu verbannen.
Würden Sie sagen, dass konservatives Denken auf diese Weise kriminalisiert wird? Und wie ist eigentlich die Rolle der CDU in diesem Zusammenhang zu beurteilen?
Ja, es gibt Tendenzen in diese Richtung. Man legt es darauf an, konservatives Denken als vormodern, ja als Ausdruck einer illegitimen Geisteshaltung erscheinen zu lassen. Wer heute für eine möglichst weitgehende Erhaltung ethnisch homogener Gemeinschaften eintritt, läuft Gefahr, als Verfassungsfeind abgestempelt zu werden. Wer hingegen für offene Grenzen plädiert oder Grenzen gar dauerhaft öffnet, stößt – jedenfalls in den Mainstreammedien – kaum auf Widerspruch.
CDU-Politiker, Mitglieder einer einst konservativen Partei, beteiligen sich seit Jahren am „Kampf gegen rechts“. Eine Torheit sondergleichen! Manches, was zu Zeiten Helmut Kohls noch Regierungspolitik war, wird heute von Staats wegen als verfassungsfeindlich betrachtet. Damals wurden zum Beispiel sogenannte Russlanddeutsche – und zwar aufgrund ihrer Abstammung – positiv diskriminiert, indem man ihnen ein Vorzugsrecht auf Immigration und Einbürgerung einräumte. Eine solche Regelung folgt der Idee des Ethnopluralismus, wonach jedes Volk das Recht hat, seine ethnische und kulturelle Homogenität zu bewahren. Die mit der Konzeption des Ethnopluralismus verbundenen inhaltlichen Positionen sind aber nach Feststellung des Verfassungsschutzes mit der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde nicht vereinbar (Verfassungsschutzbericht 2020, S. 77 f.). Selbst im Bundesamt für Verfassungsschutz scheint eine Ideologie Einzug gehalten zu haben, die für jedes Volk Konsequenzen hätte, die aus der Sicht eines Konservativen nur als eine tendenzielle Selbstauflösung beschrieben werden könnten.
Ohne zu ihren Wurzeln zurückzufinden, wird sich diese Partei dauerhaft aus dem konservativen Lager verabschieden. Für viele ihrer einstigen Stammwähler würde sie immer unattraktiver.
Herr Professor Fritze, vielen Dank für das Gespräch!
Lothar Fritze: Kommunismus und Nationalsozialismus
»War beides nicht doll, das eine aber weniger böse als das andere, nämlich eigentlich gar nicht, nur suboptimal realisiert.« So oder ähnlich lautet das heutige Klischee über die zwei großen ideologiebasierten Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Einen Vergleich von beiden, bei dem am Ende das Klischee nicht wieder rauskommt, verbietet die politische Korrektheit. Lothar Fritze, kundiger Totalitarismusforscher, wagt es dennoch und blickt tief hinein in das Denken der beiden Herrschaftssysteme, ihre Weltanschauung, ihre Utopien und – heißestes Eisen – ihre Moral (denn auch die Nazis hatten eine). Was er dabei zutage fördert, verdeutlicht wesenhafte Unterschiede zwischen den beiden Antagonisten, rückt sie aber auch so dicht zusammen, daß teils kein Blatt dazwischen paßt. Sowohl ihre Zielstellung, die bestehende gesellschaftliche und staatliche Ordnung zugunsten einer neuartigen, »besseren« zu beseitigen, wie die dabei eingesetzten Methoden und Mittel waren versippt. Hammer/Sichel und Hakenkreuz erweisen sich als überraschend verwandte Insignien.