von Felix Menzel vom 9. Oktober 2020.
In den Niederlanden sorgte in den letzten Jahren der Fall einer an Alzheimer erkrankten Frau für Aufsehen und Entsetzen, die gegen ihren ausdrücklichen Wunsch getötet wurde, weil die Familie der aktiven Sterbehilfe zustimmte.
Der Hintergrund: Die Frau hatte in einer Patientenverfügung geregelt, daß ihr Leben bei einem unerträglichen Leiden beendet werden dürfe. Als ihre Familie und Ärzte meinten, dieser Zeitpunkt sei gekommen, versuchte sie jedoch mehrfach zu widersprechen, ohne sich allerdings zusammenhängend und plausibel ausdrücken zu können. Bei der Tötung wehrte sie sich zudem.
Der Oberste Gerichtshof der Niederlande bestätigte dennoch die Legalität der „Sterbehilfe“ und begründete dies mit der eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit. Christoph Möllers, Nachfolger von Bernhard Schlink (Vorleser) auf dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität Berlin, zieht diesen Fall in seinem Buch Freiheitsgrade heran, um ein grundsätzliches Dilemma des Liberalismus zu beleuchten.
„Aus einer liberalen Sicht ist der Vorgang deswegen skandalös, weil der Lebenswunsch der Frau selbst dann Respekt verdient, wenn sie ihn nicht mehr zu rechtfertigen vermag. Für Theorien, die Freiheit mit Vernunftfähigkeit identifizieren, liegt hier ein Problem“, so Möllers. Der Liberalismus steht folglich vor der Grundsatzfrage, ob es liberal ist, die Sterbehilfe zu legalisieren und der privaten Entscheidung zu überlassen oder einen irrationalen Wunsch zu respektieren.
Es handelt sich dabei keinesfalls „nur“ um eine diffizile bioethische Angelegenheit. Vielmehr läßt sie sich auch größer ziehen und auf alle Meinungsäußerungen ausweiten. Gibt es Meinungsfreiheit nur für diejenigen, die ihren Standpunkt gut begründen können oder auch für diejenigen, die aus Sicht der Mehrheit irrationalen Stimmungen oder Ängsten erliegen?
Sobald Freiheit an die Vernunft gekoppelt wird, kann die politische Korrektheit und mit ihr ein ins Totalitäre abdriftendes Sprachregime gedeihen. Es ist deshalb besonders wichtig, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit als ein „Abwehrrecht gegen den Staat“ zu interpretieren, so Lothar Fritze in seinem neuen Buch über den Angriff auf den freiheitlichen Staat.
Da der einzelne Bürger aber nun einmal selbst in einem gut funktionierenden Rechtsstaat ohnmächtig gegenüber den sozialen Ausgrenzungsbestrebungen der Masse ist, weil dieser ihm die Möglichkeit jeder Meinungsäußerung lediglich nachträglich (!!!) vor Gericht bestätigt, braucht es noch mehr. Den Begriff der „wehrhaften Demokratie“ sollten wir nicht länger für die Herrschaft des Verdachts und zur Extremistenbekämpfung verwenden.
Eine wahrhaft „wehrhafte Demokratie“ würde den von Carl Schmitt gesponnenen Faden der Verteidigung der staatlichen Neutralität aufnehmen. Diese Neutralität ist nichts Passives. Sie manifestiert sich vielmehr in einer Staatspolitik „strenger Sachlichkeit“, die den Vereinnahmungsversuchen der Parteien die Stirn bietet.
Mit Dimitrios Kisoudis könnte man einen solchen Staat einen liberalen „Ordnungsstaat“ nennen. Er gewährleistet Freiheit nach innen und Schutz nach außen. Somit balanciert er das aus, was Liberalen seit Thomas Hobbes die größten Bauchschmerzen bereitet. „Das ungelöste Problem jeder liberalen Theorie“ bestehe darin, ob wir uns „vor den anderen, die uns nach dem Leben trachten, oder vor der politischen Gewalt, die sie in Schach halten soll“, mehr fürchten müssen, spitzt Möllers zu.
Der Ordnungsstaat bietet hier den einzig möglichen Ausweg. Dieser Ansatz verkennt jedoch die Schwierigkeit, dafür emotionale Zustimmung zu erhalten. Mit dem bis heute genutzten Slogan „Vom Ich zum Wir“ gelingt es den Kollektivisten aller Lager sehr erfolgreich, die „Grenzen der Gemeinschaft“ (Helmuth Plessner) zu verwischen.
Das „Wir“ hat nur seine Berechtigung im kleinen Rahmen der Familie, des Freundeskreises, der konkreten sozialen Hilfe und vielleicht noch des Dorfes, wobei Rolf Peter Sieferle in seinen Ausführungen zur Familiengeschichte selbst Bedenken gegen die Vorstellung langfristig homogener Dörfer anmeldet. Das „große Wir“ der Nation ist demgegenüber ganz anderer Natur. Es ist ein „gesellschaftliches Wir“ auf kommunikativer Ebene, das die Distanz zwischen den Individuen, die sich gegenseitig verständigen sollen, aber keine Einheit bilden dürfen, braucht.
Warum sie keine Einheit bilden dürfen, hat Arnold Vaatz in seiner kontrovers diskutierten Rede zum 3. Oktober im Sächsischen Landtag bestechend seziert. Er sagte, die Wissenschaftsgeschichte lese sich „wie ein Protokoll der Korrektur kollektiver Irrtümer“. Dem Konformitätsdruck entliehen kann man also nur, wenn man den Mut, zur Minderheit zu gehören, aufbringt.
Ein Gedanke zu “Freiheitsgrade in Zeiten kollektiver Irrtümer”