Corona und die Realitätsfinsternis

Von Felix Menzel vom 22. Oktober 2020.

Zum zweiten Mal in diesem Jahr hamstern die Deutschen Klopapier. Doch eins ist anders als im Frühling. Die Regierung verspricht eine „Klopapier-Garantie“. Selbst wenn niemand mehr das Haus verlassen darf, gibt es also Klopapier und Helikoptergeld in Hülle und Fülle. Damit ist doch alles in Butter, oder?

Spaß beiseite. Die Krankenhäuser sind noch nicht einmal halb gefüllt. Nirgends Leichenberge. Keine Übersterblichkeit. Dafür Appelle, Appelle, Appelle. Bereits vor einigen Monaten hieß es, wir könnten das Corona-Virus besiegen, indem sich jeder eine Maske aufsetzt. Und nun? Hat das was gebracht? Kontrolliert den Erfolg der getroffenen Maßnahmen eigentlich jemand – noch dazu, da sie unser Grundgesetz aushebeln?

Eine Regierung darf sich vergaloppieren. Letztendlich ist das sogar unvermeidlich, weil sie stets auf der Basis unvollkommener Informationen weitreichende Entscheidungen treffen muß. Wirklich erschreckend ist deshalb dieser Tage nicht etwa die Überheblichkeit der Herren Spahn und Söder. Frappierend ist die Zustimmung (oder Gleichgültigkeit?) der Masse, die doch ein materielles Interesse daran haben müßte, den eigenen Geschäften ungestört nachgehen zu können.

Der anonyme Sozialstaat mit seinen Dauersoforthilfen scheint hier ganze Arbeit geleistet zu haben. Der Zusammenhang zwischen persönlichem Fleiß und Wohlstand schwindet immer mehr. Das allein reicht freilich als Erklärung nicht aus: Eric Voegelin, dessen kluge Thesen in diesem Blog bereits mehrfach Thema waren, hat den Begriff der „Realitätsfinsternis“ geprägt. Gemeint ist damit, daß die entworfenen Realitäten der Massenmedien die „Erste Realität“, in der die Menschen leben, verdunkeln oder verfinstern können.

Diese Gefahr bestehe insbesondere für einen Menschen, der „das Gefängnis seiner Selbstheit“ nicht mehr verlassen könne. „Für dieses geschrumpfte oder kontrahierte Selbst (…) ist Gott tot, ist die Vergangenheit tot, ist die Gegenwart die Flucht“, die allein gültig und relevant sei, so Voegelin. Die Menschen, die sich aufgrund eines medialen Zerrbildes und eines Sprachregimes der kontinuierlichen Übertreibung („Risikogebiet“) tatsächlich in Panik versetzen lassen, leiden also vor allem an fehlenden Erinnerungen und fehlenden historischen Kenntnissen.

1957, als die asiatische Grippe in Deutschland wütete, erkrankten dem Wirtschaftshistoriker Hartmut Berghoff zufolge 40 Prozent der Bevölkerung. 30.000 bis 50.000 Deutsche starben. Größere Gegenmaßnahmen blieben aus. Eine Massenhysterie ebenso. Die Menschen waren weitaus schlimmere Zustände gewöhnt. Die Pandemie blieb somit „unsichtbar“, zumal auch die Medien das Volk beruhigten, statt es wie heute zu verunsichern. Irgendwann war die Pandemie dann wieder weg und alles lief normal weiter.

Voegelin meinte, das Bewußtsein des Menschen sei „elastisch genug“, um „sowohl ein wahres als auch ein kontrahiertes Selbst zu beherbergen“. Diese „Koexistenz“ läßt es zu, daß der Mensch sich zwar in vielen Situationen noch gemäß der von ihm real wahrgenommenen Erfahrungen verhält und dennoch in vielen Punkten wie eine manipulierte Marionette auftritt.

Zum Verständnis des Volkes ist diese Einsicht elementar. Der gesunde Menschenverstand, den Konservative gern bemühen, ist nur solange intakt und verläßlich, wie eine Beurteilung nach eigenem Erleben im eigenen Umkreis möglich ist. Sobald wir gefordert sind, abstrakt zu denken und Verbindungen herzustellen, kommt es auf das Weltwissen an. Ist dies gut ausgeprägt, läßt sich vieles gelassen sehen. Fehlt es, gewinnen die Medien, denn sie entscheiden über emotionale Ausnahmezustände.

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