Die intellektuelle Feigheit der Bürgerlichen

von Felix Menzel vom 7. September 2020.

Es gibt im Netz einen sehr interessanten „Appell für freie Debattenräume“. Dieser wendet sich gegen den „Ungeist“, Andersdenkende mit Auftrittsverboten zu belegen und Beiträge zu zensieren. Die „gezielte Verunglimpfung von Intellektuellen, Künstlern, Autoren und jedem, der von der aktuell herrschenden öffentlichen Meinung abweicht“, sei eine „inakzeptable Anmaßung“, betonen die Initiatoren.

Unterschrieben haben diesen Appell bisher unter anderem Peter Hahne, Alexander Kissler, Harald Martenstein, Monika Maron, Walter Krämer, Josef Kraus, Robert Pfaller, Philip Plickert, Wolfgang Sofsky und Günter Wallraff. Es ist also schon einmal gelungen, nicht nur die üblichen Verdächtigen zu motivieren, sondern auch einige Überraschungen zu präsentieren.

Das ist insofern bemerkenswert, da Denunzianten wie Sascha Lobo im Spiegel die Debatte um Cancel Culture bereits als „Praxisbeispiel für rechte Denkmuster“ gebrandmarkt haben. Wer sich von nun an getraut, den Löschwahnsinn unter dem Vorwand des Kampfes gegen Rassismus zu kritisieren, muß daher damit rechnen, in eine unappetitliche Ecke manövriert zu werden.

Dieses Framing verliert erst dann seine Wirksamkeit, wenn wir das herrschende Sprachregime decodieren. Doch reicht das für einen signifikanten Geländegewinn aus? Bereits in der Vergangenheit gab es Unterschriftenlisten, als z.B. die konservative Wochenzeitung Junge Freiheit von der Leipziger Buchmesse ausgeladen wurde? Hat das allerdings irgend etwas am desaströsen Zustand der Meinungsfreiheit in Deutschland geändert?

Wohl kaum, denn sonst müßten ja entsprechende Appelle nicht betonen, daß es immer schlimmer wird. Es ist deshalb eine langfristige Perspektive von nöten. Bereits George Orwell beklagte in den 1940er-Jahren die „intellektuelle Feigheit“ in England. Dieser im Vorwort zur berühmten Farm der Tiere geäußerte Tadel beruhte auf einer heute unvorstellbaren Verherrlichung der Sowjetunion. Bezeichnenderweise wurde das Vorwort auch eine halbe Ewigkeit lang nicht veröffentlicht.

Orwell schrieb: „Wenn sich Verleger und Herausgeber bemühen, bestimmte Themen ungedruckt zu lassen, dann nicht aus Angst vor strafrechtlicher Verfolgung, sondern aus Angst vor der öffentlichen Meinung. (…) Der dunkle Punkt der literarischen Zensur in England ist, dass sie weitgehend freiwillig geschieht.“

Beispielsweise wurde Stalin – Orwell zufolge – als „sakrosankt“ dargestellt. Wer dagegen etwas sagte, erhielt den Vorwurf zu hören, reaktionäre Interessen zu unterstützen. „Die endlosen Hinrichtungen während der Säuberungsaktionen 1936-38 wurden von lebenslangen Gegnern der Todesstrafe beklatscht, und man fand es ebenso richtig, Hungersnöte publik zu machen, wenn sie sich in Indien ereigneten, und sie zu verheimlichen, wenn sie sich in der Ukraine ereigneten“, erklärte Orwell weiter die damit einhergehenden Absurditäten.

Festhalten läßt sich folglich: Die politische Korrektheit ist kein nationales Phänomen, das einzig aus dem Katastrophenschatten von 1945 resultiert. Ebenfalls bleibt ihre Durchsetzung nicht auf das Zeitalter der postmodernen Identitätszersetzer beschränkt. Die „Schweigespirale“ (Elisabeth Noelle-Neumann) scheint vielmehr eng verbunden mit der Furcht vor sozialer Isolation, die nur heroische Gestalten überwinden können.

Mit einer Unterschriftenliste ist es also nicht getan. Erst dort, wo eigene Nachteile in Kauf genommen werden, beginnt die Veränderung. In Sachsen gibt es derzeit z.B. großen Streit um die Einladung von Arnold Vaatz (CDU) als Festredner zum 3. Oktober im Landtag. Die mitregierenden Grünen und die SPD lehnen ihn ab, weil er sich jüngst bei Tichys Einblick wie ein „Verschwörungstheoretiker“ geäußert habe, und kündigten an, deshalb die gesamte Festveranstaltung (30 Jahre Freistaat Sachsen) zu boykottieren. Käme es so, würden CDU und AfD allein im Plenarsaal sitzen und Arnold Vaatz lauschen.

Doch wird es die CDU auf diese Bilder und das vermutlich verheerende bundesdeutsche Echo ankommen lassen? Wenn ja, wäre dies das erste wirkungsvolle Zeichen gegen die Cancel Culture. Knickt die CDU hingegen ein, haben die Linken einmal mehr ihre Deutungsmacht bewiesen.

(Bild: George Orwell, Quelle: Cassowary Colorizations, Wikipedia, CC BY 2.0)

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