Theologie der Vernunft

von Felix Menzel vom 27. November 2019.

Erstaunlich viele Ökonomen und Soziologen haben sich mit dem Zusammenhang von Wirtschaft und Religion beschäftigt. Zunächst ist hier natürlich Max Weber mit seiner Schrift Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus zu nennen. Weber führt darin aus, daß im Christen- und Judentum bereits weit vor Martin Luther eine asketische Arbeitsethik etabliert wurde, die besagte, man solle in der Gegenwart sparen, um in der Zukunft umso mehr schaffen zu können. Protestantische Religionen hätten diese Idee dann auf die Spitze getrieben.

Beachtung verdient außerdem Alfred Müller-Armack. Der Wortschöpfer der „Sozialen Marktwirtschaft“ veröffentlichte 1959 eine über 600-seitige Abhandlung über Religion und Wirtschaft. Darin spricht er ebenfalls von einer „neuen Arbeitsgesinnung“, die weit über das antike Erbe hinausreiche. Im Gegensatz zu Weber begriff Müller-Armack jedoch die wirtschaftssoziologischen Folgen dieser Entdeckung besser. Ähnlich wie Hans Blumenberg beschrieb er, daß die christlichen Europäer spätestens in der Neuzeit nicht mehr an Fort-Schritten interessiert waren, sondern das Unmögliche möglich machen wollten. Statt einen eingeschlagenen Weg fortzusetzen, setzten sie zu großen Sprüngen an und entfesselten so die Dynamik des Kapitalismus.

Es ist naheliegend, hier Utopismus und Größenwahn zu wittern, der in politischen Religionen enden kann. Eric Voegelin meinte, das Christentum sei dafür besonders anfällig, weil es eine recht anspruchsvolle, intellektuelle Religion sei, die gerade dadurch aber die Intellektuellen einlade, sich selbst daran zu versuchen, einen neuen Glauben bzw. eine neue Kirche zu stiften.

Die Neigung, den eigenen Glauben ständig zu hinterfragen, kann daher nach kritisch-konservativer Lesart für die grauenhaften, totalitären Verfehlungen der Europäer mitverantwortlich gemacht werden. Darüber hinaus bietet diese Interpretation einen Zugang zum Verständnis der Beliebigkeit des Christentums in der Gegenwart. Wenn heute ein evangelischer Gottesdienst wie ein Rockkonzert anmutet, dann liegt das an der schier grenzenlosen Anpassungsfähigkeit dieser Religion.

Der amerikanische Religionssoziologe Rodney Stark betrachtet diese Anpassungsfähigkeit in seinem wirklich herausragenden Buch Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit, das soeben in der Edition Sonderwege erschienen ist, nun aber ganz anders. Zum einen ist das ausgesprochen erhellend. Zum anderen jedoch irritierend, weshalb ich zwei Beiträge brauche, um mich umfassend zu seinem Gedankengebäude äußern zu können.

Zunächst: Wer das Buch liest, kann sich schnell vom konventionellen Geschichtsbild aus Schulzeiten verabschieden. Stark verwirft die übertriebene Glorifizierung der Antike. Er relativiert die neuen Erkenntnisse der Renaissance und Aufklärung. Stattdessen arbeitet er minutiös heraus, daß im Mittelalter die Ursprünge der Wissenschaft und des technischen Fortschritts liegen. Nur weil die christlichen Europäer die Schattenseiten der Sklaverei erkannten, kamen sie z.B. früh auf die Idee, auf „erneuerbare Energien“ wie Wind- und Wasserkraft zu setzen.

Moralische Bedenken waren hier ausschlaggebend und mitnichten eine asketische Arbeitsethik. Diese war trotzdem wirkmächtig. Bereits im 6. Jahrhundert erklärte Benedikt von Nursia: „Die Trägheit ist der Feind der Seele.“ In diesem Satz steckt viel Wahrheit: Es ging eben nicht darum, mit Luxusgesetzen Ausschweifungen zu verbieten, sondern vielmehr den „inneren Schweinehund“ zu überwinden. Denn nur in einem gesunden Körper, kann ein gesunder Geist wachsen.

Im Gegensatz zum Islam mit seinem „extrem tatkräftigen Gott, der genau so weit in die Welt eindringt, wie er es für angemessen hält“ und damit strenge Befehle erteilt, lehre das Christentum jedoch, daß „die Sünde eine persönliche Angelegenheit sei“, um die sich jedes Individuum selbst zu kümmern habe, unterstreicht Rodney Stark.

Das setzte die ungeahnten Kräfte der Vernunft frei. Stark zeigt sich optimistisch, daß mit ihnen auch die Herausforderungen der Zukunft bewältigt werden können. Müssen wir also keine Sorge vor einer Islamisierung des Abendlandes haben? Damit wird sich mein zweiter Beitrag beschäftigen.

(Bild: Logo der ersten europäischen Universität in Bologna)

Rodney Stark: Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit.

Das Mittelalter, die menschheitsgeschichtlich gigantische Epoche zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert, soll also „finster“ und „dumpf“ gewesen sein? Eine Karenzzeit der geistigen, kulturellen und lebenspraktischen Stagnation, die erst durch Reformation und Aufklärung beendet werden konnte? Alles Unfug!

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