von Felix Menzel vom 19. Mai 2021.
In der Krise läßt sich die Realität stets am besten erkennen. Insofern sagt die aktuelle Debatte über die Rückgabe der Grundrechte ausschließlich an Geimpfte sehr viel über ihre generelle Gültigkeit aus.
Zunächst: Diese Debatte strotzt nur so vor Ungereimtheiten. Da wäre z.B. die Frage einzubeziehen, wie lange der Corona-Impfschutz hält. Sollte auf ihn nicht länger als sechs Monate Verlaß sein, müßte eigentlich auch die Rückgabe der Grundrechte zeitlich begrenzt werden.
In den letzten Wochen kam es zudem regelmäßig zu Corona-Infektionen trotz vorheriger Impfungen. Es sei eben kein 100-prozentiger Schutz möglich, geben dann regierungsnahe Wissenschaftler zu Protokoll. Doch wie läßt sich von dieser Position aus eine Rückgabe der Grundrechte für alle Geimpften rechtfertigen? Schließlich heißt es zugleich, junge Menschen müßten weiter auf ihre Grundrechte verzichten, obwohl bei ihnen die Sterbewahrscheinlichkeit ebenfalls gegen null geht.
Wo liegt hier der entscheidende Unterschied? Ab welchem Infektions- bzw. Sterberisiko dürfen Bürger ihre Grundrechte wieder in Anspruch nehmen? Und was würde es für unsere Gesellschaft bedeuten, wenn wir eine solch fadenscheinige Begründung auf andere Lebensbereiche übertragen? Müßten dann nicht etwa alle gefährlichen Sportarten (Tauchen, Skifahren, Motorradrennen) sofort verboten werden?
Es ist nicht nötig, darüber im Detail zu befinden, schwierige Einzelfälle zu sezieren und über tatsächlich erforderliche Freiheitseinschränkungen zu diskutieren. Vielmehr sollte im Fokus stehen, welche Bedeutung die Grundrechte in Zeiten ihrer überstürzten Suspendierung überhaupt noch haben.
Der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider hat dazu für den Sammelband „Nachdenken für Deutschland“ einen wegweisenden Aufsatz beigesteuert, dessen Brillianz vermutlich erst jetzt deutlich wird. Im Gegensatz zu jenen, die in Artikel 1 des Grundgesetzes ein angebliches Recht auf weltweite Migration hineinlesen, definiert Schachtschneider den schwammigen Begriff der „Würde“ über die Freiheit der Staatsbürger.
Diese sei zu untergliedern in die äußere Freiheit der Unabhängigkeit von nötigender Willkür und die innere Freiheit, die nur durch Sittlichkeit erlangt werden könne. Schachtschneider argumentiert hier mit Kant. In diesem Sinne kann nur frei sein und sich auf Freiheit berufen, wer in der Lage ist, den kategorischen Imperativ anzuwenden. Die Meßlatte liegt somit sehr hoch. Freiheit setzt Mündigkeit voraus und sie fordert zur Rücksichtnahme auf, da die Freiheit der anderen ebenfalls geachtet werden muß.
Auf unsere aktuelle Situation bezogen: Es widerspricht dem Geist des Grundgesetzes, die zentralen Freiheiten unserer Gesellschaft in einer Endlosschleife außer Kraft zu setzen. Alle Schutzmaßnahmen müßten auf Freiwilligkeit beruhen. Legitim ist es lediglich, alle Bürger dazu aufzufordern, sich so umsichtig und vernünftig zu verhalten, daß sie niemanden leichtsinnig in Gefahr bringen. Fraglich ist allerdings, ob in einer Massengesellschaft diese Fähigkeit zur sittlichen Freiheit besonders stark ausgeprägt ist oder ein unerreichbares Ideal bleibt. Zugespitzt: Ist die Vergabe von Grundrechten auch dann noch eine gute Idee, wenn die Masse unvernünftig handelt?
Wohl weil die Antwort darauf mindestens ambivalent ausfällt, gibt es keine „Rechtsstaaten“ in Reinform. Schachtschneider arbeitet vielmehr heraus, daß selbst das Bundesverfassungsgericht bereits des öfteren betont habe, auch die Bundesrepublik Deutschland sei eine „Herrschaftsordnung“ und „Herrschaft“ müsse „als Gegenteil von Freiheit“ definiert werden.
Dies ziehe einen grundsätzlichen Konflikt nach sich. Mit der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist Herrschaft nicht vereinbar“, so Schachtschneider. Der Staat bzw. die Herrschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland steht also generell auf Kriegsfuß mit den Grundrechten. Sie seien „allenfalls klägliche Abwehrrechte“, aber – realistisch betrachtet – niemals garantiert.
Staat und Gesellschaft können nur ein halbwegs stabiles „Gleichgewicht der Macht“ (vgl. Daron Acemoglu/James A. Robinson) erreichen, wenn der mit dem Gewaltmonopol ausgestattete und damit überlegene Staat ausreichend Vorsorge trifft, um die Gesellschaft zu stärken. Er müßte folglich aus den kläglichen Abwehrrechten echte Freiheitsrechte machen, die unter keinen Umständen eingeschränkt werden dürfen.
Wie könnte das geschehen? Im Grundgesetz finden sich zur körperlichen Unversehrtheit, zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit sehr weiche Formulierungen, die leicht ausgehebelt werden können. Vielleicht ist es an der Zeit, sie zum Wohle des Volkes präziser und eindeutiger zu fassen.
Beschränkt Souverän
Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als „Weststaat“ – alliierter Auftrag und deutsche Ausführung
Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland ist nicht denkbar ohne den schon bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges erkennbaren tiefen Riss zwischen den alliierten Siegermächten in Ost und West. Es waren vor allem die USA, die sehr rasch auf die Schaffung eines »Weststaates« drängten, da sie ihre ideologische und militärische Vorherrschaft in Europa bedroht sahen. Allerdings schwebte den drei westlichen Besatzungsmächten dabei weniger ein »Deutschland als Ganzes« vor als vielmehr ein demokratisches und dezentralisiertes (föderalistisch gegliedertes) Staatsgebilde.
Die nicht gerade leichte Aufgabe, dafür eine Verfassung auszuarbeiten, wurde einem Parlamentarischen Rat überantwortet, der jedoch über keinen Verwaltungsapparat verfügte, welcher die Entwürfe für die anstehenden Beratungen sachgerecht hätte vorbereiten können. Jochen Lober zeigt in eingehenden Analysen der Sitzungsprotokolle des Rates, unter welch schwierigen Bedingungen das bundesrepublikanische Grundgesetz schließlich zustande kam – bei ständigen Versuchen der westlichen Alliierten, Einfluss zu nehmen.