Aufstieg und Verfall

von Felix Menzel vom 20. August 2020.

Im Alltag und in der Geschichte lassen sich überall Zyklen finden. Wächst eine Stadt zu einem bedeutenden Handels- oder Kulturzentrum, so werden die Bürger ab einem bestimmten Punkt Agglomerationsgewinne erzielen können. Sie profitieren von der überdurchschnittlichen Infrastruktur, den intellektuellen Zirkeln, der Dichte an innovativen Unternehmen und den Bildungseinrichtungen.

Dies ermöglicht es ihnen, Synergieeffekte zu erzielen. Das heißt: Sie sind erfolgreicher, als dies anderswo mit ihren individuellen Fähigkeiten realistisch wäre. Dies wiederum zieht immer mehr Menschen an. Die Stadt wächst und wächst weiter. Die Immobilienpreise steigen unaufhörlich und viele Investoren gehen in diesem Stadium des Zyklus tatsächlich von einem endlosen Fortschritt aus, der wie eine Gelddruckmaschine wirkt, weil sie Häuser auf Kredit kaufen können und es so scheint, daß jede Immobilie in den folgenden zwei, drei Jahren stets zu noch höheren Preisen weggeht.

Ökonomen und Geographen haben dabei längst das Umschlagen der Agglomerationsvorteile in Agglomerationsnachteile erkannt. Wo die Mieten nicht mehr bezahlbar sind, werden sich irgendwann nur noch Saturierte niederlassen können. Die Fachwelt spricht von sozialräumlicher Polarisierung mit residentieller Segregation.

Die Mittelschicht geht verloren. In dem einen Viertel wohnen nahezu ausschließlich Arme und bildungsferne Familien. Auf diesem Boden gedeihen Gewaltkriminalität und Drogenprobleme. Wenige Kilometer weiter indes bilden die Reichen „Gated Communities“. Zudem ist in solchen Städten meist die Infrastruktur hoffnungslos überlastet. An jeder Ecke bildet sich ein Stau. Die Vernetzung wird folglich als Enge empfunden.

Natürlich verschwindet eine solche Stadt, in der auf einmal die Agglomerationsnachteile überwiegen, nicht wieder vom Erdboden. Sie entwickelt sich auch nicht zurück zu einem Dorf. Dennoch hat sie einen Zyklus mit einem nie wieder erreichbaren Höhepunkt durchlaufen. Dieser Höhepunkt kann eine Epoche prägen. Die Epoche kann jedoch nicht künstlich verlängert werden. Sie hat eines Tages ihren Zenit überschritten und muß durch etwas Neues ersetzt werden, um einen dauerhaften Niedergang zu verhindern.

Es kommt also auf den Betrachtungsgegenstand an, ob sich die Stadt linear oder zyklisch entwickelt. Die Einwohnerzahl mag kontinuierlich steigen. Aber wie sieht es mit der Architektur aus? Bleibt die Altstadt unverwechselbar oder verdrängen Shopping Center ältere Gebäude? Auch die Gastronomie dürfte sich in touristischen Magneten zyklisch entwickeln: Die Stadt gewinnt ihren Charme durch regionale Speisen. Doch sobald die Massen kommen, dürfte der internationale Einheitsbrei mehr nachgefragt werden. Das spezifisch Eigene verschwindet und das, was es überall gibt und leicht zu konsumieren ist, setzt sich durch.

Aufgrund der Vielzahl solcher Phänomene, die sich sehr genau prognostizieren lassen, hat das zyklische Geschichtsmodell seine Berechtigung. Wie Wätzold Plaum im gerade erschienenen Buch Oswald Spenglers Geschichtsmorphologie heute detailliert herausarbeitet, sollten wir uns nur die Mühe machen, die „Ebenen der Zyklik“ genau zu bestimmen und dabei – im Gegensatz zu Spengler – unideologisch vorgehen.

Denn, so Plaum: „Es ist also davon auszugehen, dass es primär diese weltanschaulichen Anteile traditioneller Geschichtsphilosophien sind, die sie vielen Zeitgenossen unannehmbar erscheinen lassen, da sie subjektive Ideologie mit vorgeblich objektiver Historiographie vermengen und dem Ganzen den Schein der ‚Objektivität‘ und ‚Notwendigkeit geben.“

Plaum legt folglich die Messlatte einige Stufen herunter. Statt den angeblich unausweichlichen „Untergang des Abendlandes“ zu beweisen, will er Epochen und idealtypische Abläufe in der Geschichte destillieren. Den Höhepunkt einer Epoche bezeichnet er dabei als Klassik. Diese werde vorbereitet durch intuitive sowie später programmatische Arbeiten, die in einer Kanonisierung münden. Und da sich der Geist der Klassik nicht konservieren läßt, wird sie nach ihrer Blütephase entweder trivial oder von etwas Neuem gesprengt.

Die Geschichte der Antike passe in dieses Muster, meint Plaum. Gleiches treffe aber auch z.B. auf das Gesamtwerk der Beatles zu. Er sieht daher die Möglichkeit, sein Modell „auf ganz unterschiedlichen Zeitskalen“ einzusetzen. Darüber hinaus schwächt er Spenglers Anspruch, die „Geschichte vorauszubestimmen“, dahingehend ab, daß keine Theorie der Welt mit 100-prozentiger Sicherheit EpidemienFinanzkrisen oder Kriege voraussehen könne.

Der Geschichte wird also ein chaotisches Momentum zugestanden. Plaum betont, es gebe auch unvollendete und atypische Zyklen. Die Entwicklung des Abendlandes zählt er übrigens zu den unvollendeten Zyklen. Untypisch sei an ihr allerdings ebenso, daß die Philosophie des Abendlandes keine Klassik kenne. Oder liegt sie noch vor uns? Die Programmatik wurde schließlich längst entwickelt. Plaum überrascht in seinem Aufsatz mit einer sehr gewagten These zum Ende der Neuzeit. Spätestens „bis zur Jahrhundertmitte“ erwartet er einen grundlegenden kulturellen Wandel und sieht in den Vorboten (Brexit, Trump, „das Erstarken der politischen Rechten“) einen „Weckruf an die Geschichtsphilosophie“.

(Bild: Kaiserhof München)


David Engels, Max Otte, Gerd Morgenthaler, Dezső Csejtei (Hrsg.): Oswald Spenglers Geschichtsmorphologie heute. 

Als der erste Band 1918 erschien, traf Spengler den Nerv der Zeit und avancierte zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Denker der Weimarer Republik. Von den Nationalsozialisten distanzierte er sich rasch und umfassend; sein Spätwerk Jahre der Entscheidung gilt sogar als Manifest der konservativen Opposition gegen Hitler. Heute wird Spengler nach einer längeren Unterbrechung zunehmend wieder gelesen.

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