Volk und Nation (I)

von Felix Menzel vom 4. Februar 2021.

Vor einigen Tagen erschien auf Welt.de ein Interview mit dem französischen Philosophen Pascal Bruckner. Er sieht im „rassistischen Antirassismus“ und Genderwahn Ideologien der Einfachheit, die seltsamerweise auf Intellektuelle einen besonderen Reiz ausübten.

Diese Ideologien reduzierten „die gesamte Menschheitsgeschichte auf das Offensichtlichste“ und erinnern Bruckner an die „plumpe Propaganda“ des „Faschismus der 1930er-Jahre“. In Europa und den Vereinigten Staaten fielen sie auf fruchtbaren Boden, weil hier die Gleichheitslitanei vom „Selbsthass des wohlhabenden Weißen“ verstärkt werde.

Dieser Selbsthaß ist dafür verantwortlich, daß die versprochene Gleichheit im Endeffekt doch keine ist. Vielmehr findet eine bewußte Bevorzugung von Minderheiten statt. Beim Einhundertmeterlauf sollen schließlich nicht etwa alle den gleichen Startpunkt und die gleiche Strecke haben, wie das in einer Leistungsgesellschaft der Fall wäre. Wenn statt dessen alle zeitgleich über die Ziellinie laufen sollen, brauchen eben manche 20 Meter Vorsprung oder die guten Läufer ein paar zusätzliche Hindernisse.

So entsteht ein ständiges Wechselspiel zwischen den egalitären Ideologien der Einfachheit und immer neuen Verrenkungen im alltäglichen Leben. Die Einfachheit und Attraktivität dieser Idee beschränkt sich also lediglich auf die ideologische Suggestion. Die Praxis sieht indes ganz anders aus: Der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat überzeugend dargelegt, daß Kleingruppen über fürsorgliche Dominanz und prosoziale Führung funktionieren. Anonyme Großgesellschaften neigten hingegen zu repressiver Dominanz und Ellenbogenmentalität. Er sah dabei eine „zunehmende Verdünnung des emotionellen Engagements“ von der Familie über die Gemeinde, die Kulturnation, den Staat und die „Kulturenfamilie“.

Ausgehend von dieser empirisch bisher unwiderlegt gebliebenen Beobachtung läßt sich die Utopie globaler Gleichheit und eines sich daran orientierenden Weltstaates als diktatorisches Projekt entlarven. Und mehr noch: Vielleicht sollte uns diese Beobachtung auch veranlassen, die Frage aufzuwerfen, ob Volk und Nation etwas zusammenfügen und „gleich machen“, was getrennt konfliktfreier bestehen könnte.

In seinem soeben erschienenen Buch über den Zauber des Eigenen zeichnet Thor von Waldstein brillant nach, wie Ende des 18. Jahrhunderts „Volk zu einem aktionistischen Zukunftsbegriff“ aufgeladen wurde, um provinzielles Denken zu vertreiben. Um das Volk gegen die französische Fremdherrschaft zu mobilisieren und einen modernen Nationalstaat hervorzubringen, war das natürlich vonnöten.

Doch wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten. Dieser besteht – mit Eibl-Eibesfeldt gedacht – darin, daß es sehr viel schwieriger ist, eine emotionale Bindung zu Volk und Nation aufzubauen, als zur eigenen Familie oder Heimat. Die Vertrautheit der Heimat entsteht durch eine gewaltsame Prägung (vgl. Christoph Türcke). Sie ist unausweichlich.

Die „natürliche“ Bindung zur Nation ist dagegen weniger stark ausgeprägt. Gerade deshalb sind massenpsychologische Maßnahmen erforderlich, um sie hervorzubringen. Daß dabei die Dosis zu hoch angesetzt werden kann, ergibt sich allein schon aus der Tatsache des innenpolitischen Machtkampfes. Fatalerweise kamen im demokratischen Zeitalter die Verlockungen der Gleichheit hinzu. Martin van Creveld schreibt dazu, sie seien es gewesen, die dem Nationalsozialismus im Gegensatz zur alten Rechten Anziehungskraft verliehen.

Da wir bis heute mit dieser Diskussion um übersteigerten Nationalismus und gesunden Patriotismus konfrontiert sind, während auf der anderen Seite ein zersetzender Individualismus wartet, bedarf es nach wie vor der Klärung, wie gleich ein Volk gemacht werden sollte bzw. darf.

In seinem Kapitel über Georg Wilhelm Friedrich Hegel führt Thor von Waldstein deshalb aus, das Volk müsse sich unbedingt auf seine Eigenständigkeit gegenüber dem Staat besinnen: „Auf der Basis eines solcherart wiedererwachten Selbstbewußtseins sind politische Ziele neu zu formulieren, die staatlichen Reglementierungsgelüsten, erst recht Bestrebungen des Staates, den Souverän, das Volk, abzuschaffen, kraftvoll entgegentreten.“ Er setzt dabei vor allem auf die „vermittelnden Gewalten in einem Volk, die Stände, Genossenschaften, Gemeinden, Familien, etc.“, die notwendig seien, um die „Staatsgewalt subsidiär durch die einzelnen Elemente des Volkes“ auszuüben.

Es schließt sich damit gewissermaßen ein historischer Kreis: Wenn 30 Jahre nach der Deutschen Einheit Menschen auf der Straße „Wir sind das Volk“ skandieren, dann schwingt auf einmal wieder eine Bedeutung dieses Wortes mit, die als längst überwunden galt. Dieses Volk ist zwar nicht durchweg Unterschicht, wie „von denen da oben“ behauptet. Es muß aber auf einmal wieder „die da unten“ repräsentieren und Widerstand gegen eine Elite organisieren, die neofeudalistische Züge zeigt.

(Bild: Barrikadenkämpfe, 1848)

Martin van Crefeld: Das falsche Versprechen.

Die längste Zeit lebten Menschen auf dieser Erde, denen jeder Begriff von Gleichheit fehlte. Bis zum heutigen Tag gibt es viele Gesellschaften und Völker, die allein vom Prinzip der Ungleichheit regiert werden. Dass die Idee der Gleichheit in die Welt trat, war daher keine Selbstverständlichkeit. Noch weniger dürfen wir für selbstverständlich ansehen, dass Menschen ihr Zusammenleben nach der Gleichheitsmaxime zu ordnen bemüht sind. Auch wenn heute das Gleichheitsdenken in den multikulturellen Demokratien des Westens für die gesellschaftlichen Diskurse beherrschend geworden ist. Zwar liegt mit den griechischen Stadtstaaten der erste große Gleichheitsversuch der Menschheit mehr als zweitausend Jahre zurück. Eine Kulturgeschichte der Gleichheit ist aber bislang nicht geschrieben worden.

Thor von Waldstein. Der Zauber des Eigenen.

Es gibt ein Unbehagen am Eigenen in Deutschland. Wurde das Volk früher begriffen als eine Seinsform, in die man hineingeboren wurde, so wähnte sich das ichverpanzerte Individuum lange Zeit frei von solchen gemeinschaftsgeprägten Lebensbildern; nationale Identität war – so schien es gerade in den Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung – einer nebulösen Weltbürgerlichkeit gewichen. Unterdessen begreifen mehr und mehr Bürger, daß in den unruhigen Jahren, die vor uns liegen, politische Gestaltungskraft nur von dem ausgehen kann, der sich seiner Wurzeln besinnt. Vor dem Hintergrund dieses Paradigmenwechsels unternimmt der Verfasser den Versuch, die Deutschen zu einer Affäre mit sich selbst zu verführen. Dazu werden die Entwicklungslinien von Volk und Nation in der deutschen Geistesgeschichte der letzten 250 Jahre nachgezeichnet. Dieses weite historisch-philosophische Panorama eröffnet Einblicke in das Verständnis der Gegenwart, die sich – im Gegensatz zu den Scheindebatten einer inszenierten Öffentlichkeit – als bestechend aktuell erweisen könnten.

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