von Felix Menzel vom 7. Mai 2019.
Kurz vor der Bundestagswahl 2017 bezeichnete Katrin Göring-Eckardt (Grüne) die Vorstellung, als Deutsche hauptsächlich mit Deutschen zu tun zu haben, als „langweilig“. Sie sei deshalb „ganz schön froh“ über jede muslimische Bereicherung.
Wenige Wochen später setzte sie dann einen ganz anderen Akzent und posaunte in die bunte Welt hinaus: „Wir lieben dieses Land. Es ist unsere Heimat. Diese Heimat spaltet man nicht. Für diese Heimat werden wir kämpfen.“ Nun meinte sie damit, wie nicht anders zu erwarten, den „Kampf gegen rechts“. Trotzdem ist ihre semantische Kehrtwende bemerkenswert und hing natürlich mit dem AfD-Wahlerfolg zusammen.
Göring-Eckardt hatte wohl das Gefühl, von der patriotischen Opposition besetztes Gelände zurückgewinnen zu müssen. Der derzeitige Medienliebling Robert Habeck äußerte sich bereits im Jahr 2010 ähnlich. In seinem Buch Patriotismus. Ein linkes Plädoyer betont er zwar reichlich angewidert: „Patriotismus, Vaterlandsliebe also, fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht.“
Einen Absatz später relativiert er jedoch: „Intellektuelle Redlichkeit zwingt zum Bemühen um einen linken Patriotismus.“ Dieser werde zur Sinnstiftung gebraucht, um die Bürger für Politik zu begeistern. Die angebliche „Leere und Schwäche“ des Begriffs Patriotismus biete die Möglichkeit, ihn den Konservativen zu entreißen und diese „Kunstfigur“ mit einem „progressiven Weltbild“ zu verknüpfen.
Die Gefährlichkeit dieser perfiden Strategie sollte niemand unterschätzen. Denn sowohl Vielfalt, Toleranz als auch Zivilcourage beschreiben im richtigen Kontext Verhaltensweisen, die jeder vernünftige Mensch als vorbildlich erachten wird. Erst die Instrumentalisierung dieser Begriffe im Sinne des linksgrünen Zeitgeistes sorgte dafür, daß sie inzwischen zur Unterdrückung anderer Meinungen eingesetzt werden können.
Bei „Patriotismus“ ist dies nicht zu befürchten. Habeck setzte hier vor neun Jahren auf das falsche Pferd. „Heimat“ indes ist prädestiniert für einen Mißbrauch, weil seine Wortbedeutung mit der Zeit verwässerte. Um so wichtiger ist es, die Konturen neu nachzuzeichnen und jeder freiwilligen Verharmlosung zu widerstehen.
Der Philosoph Christoph Türcke hat diese Aufgabe dankenswerterweise schon vor einigen Jahren in Heimat. Eine Rehabilitierung übernommen. Ihm zufolge sei es falsch, die Heimat mit dem Geburtsort oder dem aktuellen Wohnort gleichzusetzen. Vielmehr resultiere sie aus einer Prägung in der Kindheit, die „stets etwas Gewaltsames“ beinhalte. „Nicht weil etwas schön ist, wird es uns vertraut, sondern was uns vertraut ist, finden wir schön, auf wie zufällige, fragwürdige Weise diese Vertrautheit auch zustande gekommen sein mag. Wo Vertrautheit ist, war Prägung“, erklärt Türcke.
Räume, die wir als „mütterlich imprägniert“ erlebten, entfalteten sich zur Heimat, so seine These. In der Endkonsequenz heißt dies, daß selbst Menschen, die in totaler Armut in einem Schurkenstaat aufwachsen, Heimatgefühle entwickeln. Sowohl eine naive Glorifizierung der Heimat als auch die Tendenz, sie als etwas Beliebiges zu betrachten, das sich jeder aussuchen könne, sind daher unangebracht. Sie ist einerseits ein Ort der Geborgenheit, andererseits aber unausweichliches Schicksal, dem man sich ergeben muß.
Künstlerisch genähert haben sich dieser Ambivalenz in herausragender und doch gänzlich unterschiedlicher Weise Edgar Reitz mit seinem Film Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht sowie Michael Klonovsky mit seinem Wenderoman Land der Wunder. Während Reitz eine Hommage an das einfache Volk geglückt ist, das von einem abenteuerlichen Leben in der Fremde träumt und dennoch jeden Tag die Mühen des Alltags pflichtbewußt durchläuft, hat Klonovsky seinen Protagonisten Johannes Schönbach in einem „ersatzvaterländischen Laufställchen“ namens DDR ausgesetzt, das dieser aus ungenannten Gründen trotzdem als sein „Heimatland“ empfindet.
In dem Roman erscheint es zunächst so, als ob Schönbach überhaupt keine Heimat „angewachsen“ ist, wie es Türcke ausdrücken würde. Denn sein Vater ist ein spießiger Kommunist, an dem sich der Sohnemann abarbeitet, seine Mutter spielt eine untergeordnete Rolle, die erst nach fast einem Drittel der Erzählung oberflächlich charakterisiert wird, und der Protagonist selbst beklagt sich über sein Dasein als „ewiger Zwangsprovinzler“, obwohl er in der Großstadt Berlin lebt.
Ausgerechnet am Tag des Mauerfalls entscheidet sich Schönbach jedoch dafür, „in seinem piefigen Osten“ zu bleiben, weil er mit den „begrüßungsgeldcontainerbelagernden Horden“ nicht mitlaufen will. Sonderling Schönbach, der eine gewisse Ähnlichkeit zu Klonovsky aufweist, ist sich bewußt darüber, daß er mit seinem „Gefängnis von Heimatland (…) alternativlos verwachsen“ ist und diesen Umstand nur mit Alkohol und Frauen verdrängen, nicht aber beseitigen kann.
Nach der Deutschen Einheit ändert sich daran wenig. Schönbach fühlt sich weiter heimatlos. Er zweifelt im Kapitel Finis Germaniae?, „ob dieses deutsche Volk wirklich noch die deutsche Kultur trägt oder ob diese Kultur nicht ohnehin längst eine Archiv-Existenz führt und zum allmählichen Aussterben verurteilt ist“. Diese Frage läßt sich allerdings in dieser Dringlichkeit nur stellen, wenn die Verbundenheit zur eigenen Heimat unzertrennbar ist.
Klonovsky bettet diese tiefschürfenden Gedanken unauffällig in seine unterhaltsame und äußerst witzige Prosa ein. Die Quintessenz kommt dennoch rüber: Gerade Staaten, die sich als „welthistorische Schlaraffenländer“ darstellen und keine anderen Sichtweisen tolerieren, neigen dazu, das natürliche Heimatgefühl zu traktieren.
Ganz gleich, ob dieser Angriff auf die Grundlagen des Lebens mit Mauern, Bonbons, Smartphones oder Menschenmassen geführt wird, dürfte er trotzdem nie sein Endziel erreichen. Die einmal gewaltsam imprägnierte Verbindung zur Heimat läßt sich jedenfalls nie wieder auslöschen.
Michael Klonovsky: Land der Wunder
Johannes Schönbach, Geistesmensch und Bonsai-Casanova, trinkt sich durch eine von Alkoholikern, Spaßvögeln und Bonzen bevölkerte Kloake namens DDR. Er versucht zu vergessen, daß die Ostberliner Spitzenschönheit Katja Kommerell anscheinend nur mit SED-Mitgliedern – jedenfalls nicht mit ihm – ins Bett steigt. Als man den Philologie-Studenten wegen unliebsamer Äußerungen zu einer Hilfsarbeiterexistenz in einem Schnapslager verdammt, schwindet ihm der Daseinssinn vollends.