Eine allumfassende Entpathologisierung der Dinge…

im Gespräch mit Prof. Dr. Harald Weyel vom 23. März 2021.

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bestimmten die europäischen Großmächte das Weltgeschehen. Seitdem ereignete sich ein Niedergang, dessen tiefere Ursachen weiterhin im Dunkeln liegen. Wann und wo wurden in Europa die Weichen falsch gestellt? Welche Fehlannahmen gehen auf das Konto der späteren Kriegsverlierer? Welche auf das Konto der Siegermächte? Harald Weyel stellt sich diese Fragen nicht allein aus einem historischen Interesse heraus. Der AfD-Bundestagsabgeordnete und Ökonom will vielmehr die Geburtsfehler der Europäischen Union ergründen, die sich bis heute auswirken. Wir haben mit ihm über das Wendejahr 1918, Europa und natürlich Deutschlands Rolle nach zwei verlorenen Kriegen gesprochen.

Manuscriptum: Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Weyel, in Ihrem soeben erschienenen Buch über „Die Verdammten Europas“ beklagen Sie eine „Internationalisierungswut“. Was genau meinen Sie damit?

Prof. Dr. Harald Weyel: Die Deutschen haben ihren gefühlten „Urlaub von der Geschichte“ nach 1945 weitgehend in einen Urlaub von der Realität nach 1990 (sowie vor und nach „2015“) umgewandelt. Die Ersatz-Identität und -Obrigkeit „Brüssel“ hat nirgends mehr als hierzulande selbst das aufgeklärteste nationale Selbstverständnis überlagert oder gar völlig aufgezehrt. Vielleicht sollte man das auch kurzum Identitätsflucht und Interessenleugnung nennen.

Statt damals schon sie deutliche Erweiterung deutscher Selbstverantwortung und Souveränität für neue Handlungsspielräume zu nutzen, wurde die eher immer licht- und konfliktscheuere „Internationalisierung“ der Dinge – über alle sinnvolle Arbeitsteilung hinaus – als Allheilmittel für jedweden Politikbereich verkauft. Dies geschah bei erkennbar schädlichen Nebenwirkungen schon im Bildungswesen („Bologna“) und beim Militär (halbgare Teilnahme an Dauer-Interventionen in aller Welt ohne höchst eigene Zielsetzung — bei gleichzeitiger Ridikülisierung neudeutschen Kampfwertes) und endete schließlich bei der widersinnigen Dynamisierung schlechtestmöglich begründeter Massenmigration.

Dabei muß(te) sich der größte und produktivitätsmäßig relevanteste Arbeitsmarkt der EU eigentlich niemals irgendwelchen formal-akademischen „Bologna“-Standards anpassen, sondern setzte mit dualer Ausbildung und praxisnahen Diplomen ja selbst nachahmenswerte Traditionen. Und wesentliche Teile seiner zum unmittelbaren Grenzschutz für unzuständig erklärten Sicherheitskräfte für exterritoriale NATO-Abenteuer abzustellen, um als fünftes Rad am Wagen anderer Leute Geschäftsmodelle mehr zu befördern als die eigenen, macht auch keinen guten Sinn.

Daß derlei Politikstandard weder von den Medien noch Fachgemeinden oder der Wissenschaft und Kunst über einen eher apolitischen, hypermoralisierenden, pseudopazifistischen Rahmen hinaus hinterfragt und zu Protest gebracht wurde, spricht für sich. Die ärgerlichste und provinziellste Anomalie ist aber das Thema „EU“, welches eben nicht „Europa“ als ganzes ausmacht, sondern in mancher Hinsicht ein Anachronismus des Kalten Krieges ist, der mehr mit deutscher Staatsdysfunktionalität zu tun hat als mit echter „Internationalität“ mit ausgewogener Gegenseitigkeit.

Mit dem immer überbordenderen und ziemlich gegenleistungslosen Transfer von Geld, Gütern und Bürgschaften wird dem Wettbewerb und der Reziprozität der endgültige Garaus gemacht und eine Kultur des Vertragsbruchs und der Fiskalausbeutung der Geber durch die Nehmer etabliert. Alle EU/€-Rettungs- und EU-Corona-„Politik“ läuft schließlich auf nichts anderes hinaus.

Sie schreiben davon, daß Deutschland wesentlich mehr gemeinsame Interessen mit kleineren EU-Staaten hätte als mit den westeuropäischen Großmächten. Das klingt so, als sei eine Spaltung der Europäischen Union ein durchaus begrüßenswertes Szenario. Erstaunlicherweise haben das ja auch schon andere auf beiden Seiten vorgetragen. Erinnert sei z.B. an Hans-Olaf Henkel mit der Idee der Einführung eines Nord- und Süd-Euros. Giorgio Agamben wünschte sich ein „lateinisches Imperium“ als Gegengewicht zu Deutschland und Michel Houellebecq spielte ebenfalls mit dem Gedanken der Einrichtung einer Mittelmeerunion.

Doch wie soll so etwas praktisch realisiert werden können? Außerdem: Befördern solche Spaltungspläne nicht eher die Selbstverzwergung Europas?

Die Schwerpunktbildung „Mitteleuropa“ entspräche den geopolitischen Erfordernissen weit mehr als die „Lateinisierung“ bzw. eine „Mittelmeerunion“. Grade hier sehen wir, daß nicht mal in Friedenszeiten ein effektiver Grenzschutz insbesondere seitens der Mittelmeeranrainer gewährt ist und deutsches Geld zugunsten südlicher EU-Länder fließt, die ihre Hausaufgaben nie machten sowie Entwicklungs- und/oder Konfliktzonen adressieren, die tatsächlich nur auf NATO- oder UNO-Ebene angepackt werden sollten, nicht aber durch extreme Subventionierungen und das übliche Nicht-Enforcement im EU-Stil.

Diese augenwischerische Vorstellung, durch irgendwelche Geldströme unerwünschte Migration v.a. von Nord- bis Schwarzafrika und Asien zu verhindern, ist reines Wunschdenken und verführt andere erst zu Erpressung und Korruption. Statt dessen wird das Problem nicht einmal angesprochen oder einfach wegdefiniert — siehe der völlig unverantwortliche „EU-Migrationspakt“ als quasi letzte Zuckung einer angeblichen europäischen Rechts- und Wertegemeinschaft. Mit den weniger in derlei „Postkolonialismus“-Unfug verstrickten, größeren wie kleineren östlichen EU-Mitgliedern (und Nicht-Mitgliedern) läge eine größere Interessengleichheit auf der Hand. Eine gemeinsame Währung käme aber allenfalls als eine Art transferlosem DM-Block in Frage (Österreich, Luxemburg, Niederlande, Dänemark, Schweden, Finnland).

Sie machen das Jahr 1918 als den entscheidenden Wendepunkt in der europäischen Geschichte aus. Was hätte damals Ihrer Meinung nach im Interesse aller europäischen Großmächte anders laufen müssen? Oder anders gefragt: Gibt es nach einem Weltkrieg überhaupt eine Alternative zur „Räuberschach-Logik“?

Der blutige „Running Gag“ der jüngsten deutschen Geschichte ist wohl der, sich in Friedens- und Kriegszeiten Verbündete zu suchen, die einem mehr Probleme bereiten, als man ohne sie schon hätte. Wie hätte die „Idealstrategie“ eines nüchtern handelnden Deutschlands im Juli/August 1914 aussehen müssen? Damals: Kein Militär-Blankoscheck für andere Leute jedenfalls und heute auch kein Finanz-Blankoscheck für andere Leute!

Was auf dem Plan und Spiel stand, war die Aussicht, die Dinge auch in Europa mit quasi automatischer wirtschaftlicher Durchdringung der weniger entwickelten Ökonomien durch die entwickelteren einfach geschehen zu lassen. So wie es beispielsweise in der „westlichen Hemisphäre“ ja mit den USA als Entwicklungskern vor- und nach dem Ersten Weltkrieg ohnehin geschehen ist. Eine Politik der „offenen Tür“ in Europa und der Welt wäre auch der Schlüssel für die Befriedung ökonomischer Konkurrenzkonflikte gewesen inklusive einer allmählichen Selbstauflösung überseeischer Kolonial-Monopole bzw. Oligopole.

Dazu hätte man sich auch in der nach kurzen Kriegswochen schon eingetretenen Patt-Situation Ende 1914 noch durchringen sollen. Allein, die USA hatten durch ihre ökonomische Parteinahme schon lange vor ihrem offiziellen Kriegseintritt 1917 die teils bis heute anhaltenden Nachkriegs-Unordnungen mehr oder weniger präjudiziert. Und der mit Moralreden seit 1918/19 oft nur dürftig übertünchte Atavismus im internationalen Privat- und Völkerrecht verfestigte sich nach gewissen, unvollständigen Renormalisierungsprozessen wieder. Nicht nur zum (auch immer mehr selbstverschuldeten) Nachteil „Deutschlands“ und anderer Kriegsverlierer, sondern auch weiten Teilen der sogenannten Dritten Welt. Man sollte sich dabei auch daran erinnern, daß die Berliner „Kongo-Akte“ (1884/85) ja die „Kolonien“ etc. aus jedem europäischen Kriegsgetümmel raushalten wollte.

Als Referenzmaß für eine deutsche Renaissance schlagen Sie das Kaiserreich von 1871 vor. Ist der zeitliche Abstand zu dieser Epoche nicht etwas zu groß?

Ich habe da eher das vermeintlich so schnelllebige und geschichtslose amerikanische Beispiel vor Augen! Auch wenn dort die Geschichte nicht bis zum Mittelalter (oder früher) zurückgehen kann, so sind doch der Unabhängigkeitskampf (1776-83) und mehr noch der Bürgerkrieg (1861-65) zutiefst ins nationale Selbstverständnis eingebettet. Und nicht nur zeitlich sehe ich eine Parallele vom nicht nur deutschen Befreiungskampf gegen einen Napoleon I. (1813-15) sowie auch die Zurückweisung der Ansprüche eines Napoleon III. (1870/71) quasi im Anschluß eines „Bruderkrieges“ deutscher Nordstaaten (Preußen+) gegen die deutschen Südstaaten (Österreich, Bayern+) anno 1866.

Vor dem ersten Zusammenbruch 1918 und diversen deutschen „Umerziehungen“ von außen wie innen seither, geht es eigentlich mehr denn je um eine allumfassende Entpathologisierung der Dinge, Besinnung und Aufklärung, grade auch in eigener Sache. Im gegenwärtigen Zustand eindimensionaler „Vergangenheitsbewältigung“ können wir weder uns selbst, noch sonstwem in der Welt ein vernünftiger Ratgeber und eine echte Stütze sein — höchstens „Everybody‘s endlos zahlungswilliger Depp“.

Herr Prof. Weyel, vielen Dank für das Gespräch!

Harald Weyel: Die Verdammten Europas

Der Niedergang Deutschlands begann wann? Die Mutigeren unter uns würden sagen, 1945. Die ganz Kecken, 1990 (da damals ein bei aller Kasernierung gewachsener und von seinem Volk mit findigem Eigensinn versehener deutscher Staat ausgelöscht wurde). Doch Harald Weyel, Sohn eines schwarzen GIs, Ökonom und AfD-Politiker, wirft den weitesten Stein in Richtung Ziel und erkennt: Alles begann schon 1919 mit dem Versailler Vertrag. Nicht nur, was das verlorene Kaiserreich betrifft, also den letzten souveränen, weil der anglo-ökonomischen Gleichschaltung sich widersetzenden deutschen Staat, sondern bezogen auf Gesamteuropa – und das bis ins Corona-Heute hinein. Um zu erkennen, welche Dämme aktuell brechen und warum gerade Deutschland, von den früheren Besiegern auf den „Pfad der Tugend“ geschickt, im EU-Europa eine besonders vergiftete Rolle spielt, muß man weit zurückblicken. Dieses konzise und rigorose Büchlein bietet die passende Sehhilfe.

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