Rituale in Frankfurt und Rom

von Felix Menzel vom 23. Oktober 2019.

Bei der Seßhaftwerdung des Menschen spielten kultische Ereignisse und Rituale, mit denen gemeinsame Festessen zelebriert wurden, eine überragende Rolle. Ohne diesen Kult hätte es keine Kultivierung von festen Lebensräumen gegeben und auch keine Kultur im strengeren Sinne.

Der Philosoph Byung-Chul Han begreift Rituale folgerichtig als „symbolische Techniken der Einhausung“: „Sie verwandeln das In-der-Welt-Sein in ein Zu-Hause-Sein. Sie machen aus der Welt einen verlässlichen Ort.“ Verläßlich bedeutet hier, daß sich eine „Gemeinschaft ohne Kommunikation“ verständigen kann. Sich wiederholende Momente tiefer Aufmerksamkeit und eine „Regelleidenschaft“ erzeugen diesen sozialen Zusammenhalt.

Er schwindet, wenn die Räume entgrenzt werden und die Rituale ihre Symbolkraft verlieren. Es ist müßig zu diskutieren, welcher dieser beiden Verfallsprozesse zuerst einsetzte. Fakt ist: Der moderne Mensch will maximal flexibel sein. Er besitzt deshalb nur noch die Fähigkeit zur flachen Aufmerksamkeit und als Kompensation dieser Oberflächlichkeit neigt er zu Hypermoral und Daueremotionalisierung, um doch noch sporadisch irgendwo Anschluß zu finden.

Diese Situation zwischen dem Drang nach individueller Selbstverwirklichung und dem trotzdem unauslöschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit charakterisiert unsere Zeit. Sie bringt einen „Warenfetischismus“ (Karl Marx) hervor, aber darüber hinaus auch unzählige andere symbolische Vergemeinschaftungen, die anstelle gewachsener Strukturen wie der Heimat auf Gesinnungen und kollektive Gefühle setzen.

Wenn Byung-Chul Han Vom Verschwinden der Rituale (2019) schreibt, dann mag man dieser Niedergangsdiagnose zunächst gerade aus konservativer Perspektive vorbehaltlos zustimmen wollen. Dies gilt besonders, da das Buch glänzende Aphorismen enthält, die man bei jeder Gelegenheit zitieren kann. Etwa dieser Satz hier: „Destruktiv ist die totale Ent-Ortung der Welt durch das Globale, die alle Unterschiede nivelliert und nur Variationen des Gleichen zulässt.“

Dennoch irrt er sich in mehreren Punkten: Byung-Chul Han macht das „neoliberale Dispositiv“ verantwortlich für den Verfall religiöser Formen. Statt dies pauschal zu behaupten, hätte er lieber bei Eric Voegelin nachschlagen sollen. Dieser erkannte in seiner Neuen Wissenschaft der Politik, daß die Gnosis „von Anfang an eine Begleiterscheinung des Christentums“ und auch anderer Religionen (Judentum, Islam, Heidentum) war. Der Mensch gerät immer wieder in Versuchung, sich selbst zu einem Homo Deus aufzuschwingen. Der Endpunkt dieser Entwicklung ist jedoch nicht der Neoliberalismus, sondern ein progressiver Totalitarismus.

Dieser progressive Totalitarismus kann verschiedene Prägungen erhalten. Es spricht einiges dafür, sowohl den Nationalsozialismus als auch den Bolschewismus hier einzuordnen. Die Demokratie ist ebenfalls anfällig dafür, wie Voegelin wußte. Der zweite Irrtum von Byung-Chul Han ist daher die Annahme, der „Neoliberalismus“ kenne keine Rituale des Schließens und Ausgrenzens. Das stimmt nur im Hinblick auf Waren-, Kapital- und Menschenströme.

Im Inneren dagegen findet die Sinnstiftung der Bessermenschen durch mehr oder weniger subtile Ausschließungsrituale statt. Der Manuscriptum-Verlag mußte sich deshalb auf der Frankfurter Buchmesse mit einer „abgelegenen Sackgasse“ (Frankfurter Rundschau) begnügen. Die Presse machte dabei noch nicht einmal Anstalten, diesen für eine freiheitliche Demokratie unhaltbaren Zustand zu beschönigen. Nein, sie bekannte sich offen zur Richtigkeit der Verbannungsmaßnahme, weil dieses Bekenntnis die Voraussetzung dafür ist, der Gemeinschaft der Guten angehören zu dürfen.

Mit traditionellen Ritualen hat das zwar nicht mehr viel zu tun, aber es handelt sich immer noch um ein Ritual, wenn auch ein deformiertes. Denn erstens gibt es keine rationale Rechtfertigung für die vorgenommene Segregation. Ein Verlag, der zur „internationalen sozialistischen Revolution“ aufruft und mit der linksradikalen, vom Verfassungsschutz beobachteten MLPD sympathisiert (siehe Tagebuch von Michael Klonovsky vom 18. Oktober 2019), dürfte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung definitiv ferner stehen als die Sackgassen-Verlage.

Zweitens verdient die Symbolik Beachtung. Antaios-Verleger Götz Kubitschek erläuterte dazu bereits: „Unsere Sackgasse ist die Verlängerung eines Ganges, dessen Verlauf etwa fünfzehn Meter vor unserem Stand nach rechts abbiegt, wie eine Hauptstraße, der folgend im Straßenverkehr niemand blinken würde. (…) Die Verkehrsführung ist eindeutig, sie wird durch einen rechts sich fortsetzenden roten Teppich signalisiert, während zu uns eine Schwelle, der Wechsel auf grauen Untergrund, überwunden werden muß.“

Man sieht: So kommuniziert eine Gemeinschaft ohne Kommunikation, denn „man kann nicht nicht kommunizieren“ (Paul Watzlawick). Einfacher ausgedrückt: Hier werden Selbstverständlichkeiten demonstriert, die nicht als erklärungsbedürftig erachtet werden. Diese zu durchbrechen und durch „gesunde“ Selbstverständlichkeiten zu ersetzen, ist eine Herkulesaufgabe. In Deutschland stehen wir dabei weiter am Anfang des Weges.

In Italien dagegen gelang es Matteo Salvini am Wochenende mit spielerischer Leichtigkeit, zwischen 50.000 (Polizei) und 200.000 Menschen (Angaben des Veranstalters) zu mobilisieren, um gegen die neue Regierung zu protestieren. Ein „breites Bündnis“ von Silvio Berlusconi bis hin zu aktivistischen Gruppen hatte sich hinter ihm versammelt.

Wer sich fragt, wie er das schafft, sollte neben italienischen Besonderheiten die Stärken von Salvini studieren. Im Gespräch mit Chiara Giannini betont er, wovon er träume, sei ein Land, das sich „in seiner eigenen Identität wiederfindet“. Er spricht damit die notwendige Einhausung des Menschen an. Statt gebetsmühlenartig darauf hinzuweisen, daß unsere Identität bedroht ist, muß diese Verortung aber als ein anstrebenswertes Ideal vermittelt werden. Das kann Salvini mit seiner Rhetorik der positiven Worte wie kein Zweiter.

Unterstützt wird sie durch gelebte Volksnähe. Auch am Sonnabend begab sich Salvini in die Menge, damit seine Anhänger Selfies mit ihm machen konnten. Er nutzt also die popkulturellen (Mikro-)Rituale der Jugend gezielt, um sich als einer von ihnen zu präsentieren. Glaubwürdig ist dieses Verhalten aber nur, weil er Politik zugleich als eine Art „Kampfkunst“ betrachtet.

Ziel jeder Kampfkunst ist es, sich durch das Einüben äußerer Formen, der sogenannten „Katas“, auf übermächtige Gegner einzustellen. „Man tut es vor allem für sich selbst und um andere zu verteidigen. Wenn man dann noch das Zeug zum Champion hat und die Olympiade gewinnt, Glückwunsch. Aber das ist nicht der tiefere Sinn, der dich weitermachen läßt“, erklärt Salvini seinen inneren Antrieb.

Er beschreibt damit eine Haltung, mit der sich tatsächlich gut leben läßt. Das sage ich jetzt nicht als Publizist, sondern als jemand, der seit 26 Jahren Karate trainiert, obwohl für mich große sportliche Erfolge stets außer Reichweite lagen.

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