Liberaler Totalitarismus?

von Felix Menzel vom 28. April 2019.

„In Deutschland reift etwas Aberwitziges heran: ein liberaler Totalitarismus.“ Mit dieser fulminanten Provokation eröffnet Frank Böckelmann die Frühjahrsausgabe der von ihm verantworteten Zeitschrift TUMULT. Er macht damit auf die Paradoxie aufmerksam, daß grenzenlose Freiheit eine Kraft ist, die stets das Gute will und doch nur Böses schafft.

Böckelmann jedenfalls fühlt sich wie im „Stimmungspflegeheim“, weil der „propagierte Humanitarismus eine stabile Echokammer errichtet“ habe. Erlaubt ist da nur noch, was belanglos ist, und jeder inhaltlichen Bestimmung beraubt wurde. „Vielfalt“ steht so nicht mehr für lebendige Debatten einer breiten Öffentlichkeit. Vielmehr drohen absurderweise Repressionen, wenn dieser zur Propagandafloskel verkommene Begriff das Vokabular der politisch-medialen Klasse schmückt.

Der Grund dafür ist einfach einzusehen, da der Westen stark vereinfacht zwischen zwei Gesellschaftstypen wählen kann: Entweder ist eine offene Gesellschaft mit festen Grenzen denkbar, die aus eigener ökonomischer Kraft und Tradition freiheitlich und solidarisch sein kann. Oder wir begeben uns auf den Weg in eine grenzenlose Gesellschaft, die nur mit einem zumindest subtil totalitären Überwachungsstaat zusammenzuhalten ist.

Erkannt hat dies nicht nur Böckelmann, sondern z.B. auch der Ökonom, Psychiater und Direktor der Diakonie Kliniken Sachsen, Stefan Brunnhuber, der in seinem kürzlich veröffentlichten Essay über Die offene Gesellschaft zu der Feststellung findet: „Für offene gesellschaftliche Verhältnisse wird es immer eine Dominanz des geografischen, ethnischen und emotionalen Nahraums geben.“ So ist es!

Wird dieser Nahraum nun zerstört, bilden sich nicht etwa „Parallelgesellschaften“, die brav nebeneinander ein harmonisches, distanziertes Dasein fristen. Es bilden sich statt dessen „entortende Verortungen“ (Giorgio Agamben). Das beginnt mit Auffanglagern für Migranten, geht weiter mit einer Ghettoisierung und endet mit dem Verlust des Heimatgefühls sowohl bei Einheimischen als auch Migranten.

In einer grenzenlosen Welt wird uns ständig der Teppich unter den Füßen weggezogen. Wir müssen dennoch immer wieder aufstehen und nach Halt suchen, weil der Mensch feste Institutionen braucht. Wer diese erfahrungsgemäß gut funktionierenden Institutionen – die Familie, die Sprache, das Dorf, die Region und Nation – attackiert, legt die Axt an die Wurzel an. Das ist totalitär und verhindert die freie „Entfaltung des individuell Besonderen“, unterstreicht Böckelmann.

Wie realistisch es ist, daß sich dagegen eine erfolgreiche, soziale Bewegung formiert, beleuchtet derweil Michael Böhm mit einem erfrischenden Ansatz. Sein Beitrag in der neuen TUMULT trägt den originellen Titel „Der Aufstand des Internets gegen die Telefonzelle“. Böhm beschäftigt sich darin mit der Theorie des russischen Ökonomen Nikolaj Dimitrijewitsch Kondratjew (1892-1938).

Die nach ihm benannten Kondratjew-Zyklen zeigen Innovationsschübe und die dafür ursächlichen, disruptiven Technologien an. Böhm ist nun aufgefallen, daß es im Tal eines jeden Zyklus jeweils ein „soziales Zittern und Beben“ gegeben habe. Die 68er haben nach dieser Lesart die Depression nach dem Wirtschaftswunder ausgenutzt, um einen vernetzten, grenzenlosen und emanzipierten Lebensstil zu prägen, der die Technologie des Computers, Internets und Smartphones im Sozialen vorwegnahm.

Der Kondratjew-Zyklus der Informationstechnologie neige sich nun langsam dem Ende zu und – siehe da, sagt Böhm – hätten wir mit dem Aufkommen einer starken patriotischen Opposition innerhalb und außerhalb der Parlamente das nächste Zittern und Beben zu vernehmen. Diesmal richtet sich der Protest gegen die Grenzenlosigkeit und den abgehobenen, kosmopolitischen Lebensstil der Elite in den Zentren.

Diese Elite bastelt bereits an den nächsten Basisinnovationen. Die Biotechnologie dürfte dabei eine Schlüsselrolle einnehmen und könnte eine heute noch unvorstellbare Selbstoptimierung der Elite auslösen, während für die Masse in der Peripherie die Mikrochips im Gehirn unerschwinglich sein dürften.

Welche Durchschlagskraft eine konservative Bewegung haben könnte, die dies offensiv thematisiert, bleibt abzuwarten. Die Popularität von Büchern wie Homo Deus von Yuval Noah Harari läßt jedenfalls erahnen, daß dies schon heute kein Randthema mehr ist. Auch Rolf Peter Sieferle prognostizierte in seinem Epochenwechsel, der Konflikt zwischen Natur und Technik werdedas 21. Jahrhundert dominieren.

Doch die Konfliktlinien in diesem Bereich verlaufen bisher unübersichtlich: Die AfD versucht gerade, sich als diejenige Partei zu profilieren, die sich den grünen Deindustrialisierungsphantasien entgegenstemmt. Zugleich ist in Frankreich ein Aufstand der in der Peripherie lebenden Mittelschicht zu beobachten, die sich weder einen Tesla noch eine Wohnung in Paris leisten kann.

Anknüpfend an Böhm wird die entscheidende Frage sein, ob sich diese Themen mit einem Widerstand gegen die biotechnologische Selbstoptimierung vertragen und verbinden lassen. Zumindest würde dies unsere europäische Geschichte sehr spannend machen. Oder ist das alles naiv und Spengler hat doch recht, wenn er diktiert: „Die Zeit läßt sich nicht anhalten; es gibt keine weise Umkehr, keinen klugen Verzicht.“ Es bliebe dann nur noch der „verlorene Posten“ oder die Maxime der Neokonservativen, die an der Spitze des Fortschritts marschieren wollen.


Frank Böckelmann: TUMULT – Frühjahr 2019

TUMULT präsentiert in dieser Ausgabe auf 18 Seiten eine Auswahl von Bildern des 1965 in Zittau geborenen und im mittelsächsischen Döbeln lebenden Fotografen Sven Abraham. Die Bilder stammen aus zwei Serien, den „Reisenotizen aus Transdanubien“ und den „Vertikalen Horizonten“. Der „transdanubische“ Zyklus ist auf jährlich (bis 2016) wiederholten Reisen in die ungarisch-deutsch-kroatische Heimat seiner Mutter entstanden. Sven Abraham versteht ihn als vielschichtigen „Essay“, vergleichbar einer Durchmischung von Erinnerungen bei wiederholter Begegnung mit der pränatalen Herkunft.

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