Was will Putin? Und was nicht?

Über die Ursachen des aktuellen Krieges

Die amerikanischen Pläne zur Aufteilung Rußlands. Karte aus dem 1997 erschienenen
Buch The Grand Chessboard von Zbigniew Brzezińskis (deutsch: Die einzige Weltmacht.
Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Rottenburg [Kopp] 2015).

Von Mike Whitney vom 4. März 2022.

Ich bin davon überzeugt, daß wir an einem entscheidenden Punkt angelangt sind, an dem wir ernsthaft über die Architektur der globalen Sicherheit nachdenken müssen. Und wir müssen dabei nach einem vernünftigen Gleichgewicht zwischen den Interessen aller Teilnehmer des internationalen Dialogs suchen.

Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation,
2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz

Liebe Leser,

was wissen Sie über die Krise in der Ukraine? Oder anders gefragt, können Sie diese vier Fragen beantworten?

Erste Frage
Verstößt das Ansinnen der Regierung von US-Präsident Biden, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, gegen Vereinbarungen, welche die USA unterzeichnet haben? – Ja oder nein?

Die Antwort lautet „ja“. In Istanbul (1999) und in Astana (2010) haben die USA und die weiteren 56 Länder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Dokumente unterzeichnet, die miteinander verknüpfte Prinzipien enthalten, welche die „Unteilbarkeit der Sicherheit“ gewährleisten sollen. – Was bedeutet das?

Es bedeutet, daß die Vertragsparteien sich jeder Handlung enthalten müssen, welche die Sicherheitsinteressen der anderen Mitglieder beeinträchtigen könnte. Es bedeutet, daß die Vertragsparteien keine Militärbasen und Raketenstellungen an Orten errichten dürfen, wo sie eine Bedrohung für andere Mitglieder darstellen. Es bedeutet, daß die Parteien darauf verzichten müssen, ihr jeweiliges Hoheitsgebiet zur Durchführung oder Unterstützung bewaffneter Angriffe gegen andere Mitglieder zu nutzen. Es bedeutet, daß es den Parteien untersagt ist, in einer Weise zu handeln, die den im Vertrag festgelegten Grundsätzen zuwiderläuft. Es bedeutet, daß die Ukraine nicht Mitglied der NATO werden kann, falls ihre Mitgliedschaft eine Bedrohung für die russische Sicherheit darstellt.

Ist all das schwer zu verstehen? – Nein, es ist absolut einleuchtend.

Wenn der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg also behauptet, daß „jede Nation das Recht hat, ihre eigenen Sicherheitsvereinbarungen zu treffen“, dann ist das bewußt irreführend. Stoltenberg weiß, daß sowohl die NATO als auch die Vereinigten Staaten vereinbart haben, „ihre eigene Sicherheit NICHT auf Kosten der Sicherheit anderer [zu] stärken“. Er weiß auch, daß die NATO und die USA rechtlich verpflichtet sind, sich an die Vereinbarungen zu halten, die sie in der Vergangenheit unterzeichnet haben.

Natürlich fordert Rußland Washington in dieser Angelegenheit heraus. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte vor wenigen Wochen auf einer Pressekonferenz: „Heute senden wir über das Außenministerium eine offizielle Anfrage an unsere Kollegen in den Ländern des Bündnisses und der OSZE mit der dringenden Bitte zu erklären, wie sie die Verpflichtung zu erfüllen gedenken, ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit der anderen zu stärken (…). Dies [eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine] wird die Beziehungen zur Russischen Föderation wirklich untergraben, da es eine grobe Verletzung der von den Präsidenten der USA und anderer Mitgliedsstaaten des Bündnisses eingegangenen Verpflichtungen darstellt.“

Es gibt ein ähnliches Zitat von dem russischen Botschafter in den USA Anatoli Antonow, ebenfalls nur wenige Wochen alt: „Die Vereinigten Staaten konzentrieren sich auf das Recht der Staaten, Allianzen zu wählen, ein Recht, das in den Erklärungen der OSZE-Gipfel von Istanbul (1999) und Astana (2010) verankert ist. Gleichzeitig ignorieren sie die Tatsache, daß jene Dokumente dieses Recht an die Verpflichtung knüpfen, die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer zu stärken. Das Hauptproblem ist, daß die NATO-Länder ihre Sicherheit stärken, indem sie Rußland schwächen. Wir sind mit einem solchen Ansatz nicht einverstanden.“ (Tass) Unter dem Strich heißt das: Die USA und die NATO entziehen sich ihren Verpflichtungen, um ihre geopolitischen Ziele zu erreichen. Es überrascht einen nicht, daß niemand in den westlichen Medien über dieses Thema berichtet hat, obwohl es handfeste Beweise gibt, welche die russische Position stützen.

Zweite Frage
Die Ukraine befindet sich seit dem von den USA unterstützten Putsch im Jahr 2014 in einer Krise. Haben sich die Kriegsparteien auf einen Weg zur Beendigung des Konflikts geeinigt? Ja oder nein?

Ja, das haben sie. Das Minsker Abkommen wurde im Februar 2015 unterzeichnet. Bedauerlicherweise hat die ukrainische Regierung keinen Versuch unternommen, sich an die Vereinbarungen des Abkommens zu halten. „Der Unterzeichnung ging ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Ukraine, Rußlands, Frankreichs und Deutschlands voraus, die sich auf einen Maßnahmenkomplex zur Entschärfung des Krieges im Donbas einigten.“ Mit anderen Worten: Alle waren sich einig, daß jene Maßnahmen die Kämpfe beenden und den Konflikt beilegen würden.

Beide Seiten einigten sich auf einen Waffenstillstand, den Abzug von Truppen und militärischem Gerät aus dem Kriegsgebiet sowie die Anerkennung einer De-facto-Autonomie (auch als „Sonderstatus“ bekannt) der Region Donbas. Darauf sollte eine allgemeine Entwaffnung und die Wiederherstellung der ukrainischen Kontrolle über die russische Grenze folgen. Im Laufe der Jahre hat Präsident Putin wiederholt die vollständige Umsetzung von Minsk gefordert, doch Kiew hat sie hartnäckig verweigert. Obwohl die ukrainische Regierung das Abkommen unterzeichnet hat, blieb sie entschlossen, die Feindseligkeiten zu intensivieren und den Krieg fortzusetzen. Noch Anfang Februar 2022 demonstrierten die ukrainischen Behörden gemäß russischen Medienberichten ihren Widerstand gegen die vereinbarte Regelung: „Der ukrainische Außenminister Dmitri Kuleba (…) schloß aus, dem Donbas einen Sonderstatus und ein Vetorecht einzuräumen (…): ‚Keine ukrainische Region wird ein Mitspracherecht bei nationalstaatlichen Entscheidungen haben. Das ist in Stein gemeißelt! Es wird keinen Sonderstatus geben, wie Rußland ihn sich vorstellt, kein Stimmrecht‘, sagte er.“ (Tass News Service)

Man bedenke, daß es kein Minsker Abkommen ohne die Bestimmung über den „Sonderstatus“ gibt, die auf eine De-facto-Autonomie hinausläuft, welche der russischsprachigen Bevölkerung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk gewährt wird. Der Sonderstatus ist der Kitt, der das Abkommen zusammenhält, da er den Menschen in diesen Provinzen zusichert, daß sie nicht willkürlich von staatlichen Feinden verfolgt werden. Wenn der Außenminister also den Sonderstatus ausschließt, entfernt er faktisch den Eckpfeiler, der das gesamte Abkommen zusammenhält.

Kann es ein, daß die Erklärung des ukrainischen Außenministers von Beamten des US-Außenministeriums ausgearbeitet wurde? Das ist jedenfalls wahrscheinlich. Denn eine geeinte, wohlhabende Ukraine, die in Frieden mit ihren Nachbarn lebt, paßt nicht zu Washingtons imperialen Ambitionen. Was die Regierung Biden will, ist ein zersplitterter, bankrotter und von ethnischen Animositäten zerrissener Staat, der sich leicht von außen manipulieren läßt, durch jene, für welche die Ukraine ein wichtiges Element ihrer geopolitischen Strategie darstellt. Washington ist nicht an einem Ende der Feindseligkeiten interessiert. Washington will den Status quo aufrechterhalten.

Die russischen „Sicherheitsbedenken“ wiederum sind so legitim wie akut. Putin kann nicht zulassen, daß Atomwaffen an Standorten in Rumänien und Polen stationiert werden, wo sie nur wenige hundert Meilen von ihren Zielen im nahen Rußland entfernt sind. Er muß Washington davon überzeugen, daß diese grobe Verletzung der regionalen Sicherheit (und früherer Verpflichtungen) wirklich in niemandes Interesse liegt und daß Rußland, da das Problem nicht durch friedliche Verhandlungen gelöst werden kann, gezwungen ist, andere Optionen zu verfolgen. (…)

Putin sagte gegenüber seiner obersten Führung: „Es ist äußerst besorgniserregend, daß (…) Mk 41-Abschußrampen, die sich in Rumänien befinden und in Polen stationiert werden sollen, für den Abschuß von Tomahawk-Raketen ausgelegt sind. Wenn diese Infrastruktur weiter ausgebaut wird und die Raketensysteme der USA und der NATO in der Ukraine stationiert werden, beträgt ihre Flugzeit nach Moskau nur sieben bis zehn Minuten, bei Hyperschallsystemen sogar nur fünf Minuten. Dies ist eine große Herausforderung für uns und unsere Sicherheit.“

Es ist klar, daß Putin über diese Entwicklungen besorgt ist. Vor sechs Jahren argumentierte er in einem fesselnden Vortrag für die Beseitigung der amerikanischen Raketenabwehr vor ausgewählten Pressevertretern, die seine Äußerungen aus dem Internet „verschwinden“ ließen. Hier ein Auszug: „Sobald das Raketenabwehrsystem installiert ist, wird es automatisch mit der gesamten nuklearen Kapazität der Vereinigten Staaten zusammenarbeiten. Es wird ein integraler Bestandteil der nuklearen Schlagkraft der USA sein. (…) Das verändert schlicht die gesamte Konfiguration der internationalen Sicherheit. (…) Darauf müssen wir natürlich reagieren.“

Die westlichen Medien berichteten nicht über Putins Warnungen. Natürlich stellt Amerikas so genanntes „Missile Defense“-System eine eindeutige Gefahr für die nationale Sicherheit Rußlands dar. Es integriert das Nuklearsystem der Vereinigten Staaten (einschließlich weltraumgestützter Operationen) mit Systemen, die in Rußlands traditionellem Einflußbereich liegen. Außerdem verschafft es Washington einen Vorsprung bei der Fähigkeit zum Erstschlag, was für die russische Sicherheit das Aus bedeutet. Als Reaktion auf diese Entwicklungen hat Rußland ein völlig neues System von Atomwaffen und hochmodernen Hyperschall-Interkontinentalraketen („Avangard“) geschaffen. Dies hat das Machtgleichgewicht zwischen den beiden Nationen wiederhergestellt, schraubt aber auch die Waffenentwicklung weiter in die Höhe, was die Feindseligkeiten verschärfen (…) könnte.

Dritte Frage
Warum ist Washington so feindselig gegenüber Rußland? Stellt Rußland eine Bedrohung für die langfristigen strategischen Ziele der Vereinigten Staaten dar?

Ja, in der Tat ist Rußland zum größten Hindernis für Washingtons ehrgeizigen Plan geworden, seine Macht über Zentralasien auszubauen, um von dem dortigen explosiven Wirtschaftswachstum zu profitieren. Putin hat diese Strategie vereitelt, indem er die russische Wirtschaft gestärkt und die Verteidigung des Landes wieder aufgebaut hat. Man bedenke, daß die Globalisten für Rußland vorsahen, ein zersplittertes, föderalistisches System zu schaffen, das die riesigen Ressourcen des Landes für die Ausbeutung durch das Ausland öffnen und gleichzeitig die politische Zentralmacht in Moskau schwächen würde. Der außenpolitische Stratege Zbigniew Brzeziński faßte diesen Plan in einem Artikel mit dem Titel „A Geostrategy for Eurasia“ folgendermaßen zusammen:

„Angesichts der Größe und Vielfalt [Rußlands] wären ein dezentrales politisches System und eine freie Marktwirtschaft am ehesten geeignet, das kreative Potenzial des russischen Volkes und Rußlands enorme natürliche Ressourcen freizusetzen. Ein locker konföderiertes Rußland – bestehend aus einem europäischen Rußland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik – würde es auch leichter haben, engere Wirtschaftsbeziehungen mit seinen Nachbarn zu pflegen. Jeder der konföderierten Staaten wäre in der Lage, sein lokales kreatives Potenzial zu nutzen, das jahrhundertelang durch Moskaus schwere bürokratische Hand unterdrückt wurde. Im Gegenzug wäre ein dezentralisiertes Rußland weniger anfällig für eine imperiale Mobilisierung.“ (Zbigniew Brzeziński, „A Geostrategy for Eurasia“, in Foreign Affairs, September/Oktober 1997)

Putins Transformation der russischen Wirtschaft (und der Verteidigung) hat Brzezińskis Plan natürlich zum Scheitern verurteilt. Er hat auch Washingtons „Pivot-to-Asia“-Plan blockiert, den die damalige Außenministerin Hillary Clinton in einer Rede im Jahr 2011 zusammenfaßte: „Die Zukunft der Politik wird sich in Asien entscheiden, nicht in Afghanistan oder im Irak, und die Vereinigten Staaten werden mitten im Zentrum des Geschehens stehen. (…) Eine der wichtigsten Aufgaben amerikanischer Staatskunst im nächsten Jahrzehnt wird daher darin bestehen, wesentlich höhere Investitionen – diplomatisch, wirtschaftlich, strategisch und anderweitig – in der asiatisch-pazifischen Region zu tätigen. Das Wachstum und die Dynamik Asiens zu nutzen, ist von zentraler Bedeutung für die wirtschaftlichen und strategischen Interessen der USA und eine der Hauptprioritäten von Präsident Obama. Offene Märkte in Asien bieten den Vereinigten Staaten beispiellose Möglichkeiten für Investitionen, Handel und den Zugang zu Spitzentechnologie. (…) Amerikanische Unternehmen (müssen) die riesige und wachsende Verbraucherbasis Asiens erschließen. (…) Die Region erzeugt bereits mehr als die Hälfte der weltweiten Produktion und fast die Hälfte des Welthandels. Während wir uns bemühen, Präsident Obamas Ziel einer Verdopplung der Exporte bis 2015 zu erreichen, suchen wir nach Möglichkeiten, noch mehr Geschäfte in Asien zu machen.“ („Amerikas pazifisches Jahrhundert“, Außenministerin Hillary Clinton“, in Foreign Policy Magazine, Oktober 2011)

Dieses Zitat erhellt, daß die Planer der US-Außenpolitik davon ausgingen, die Russische Föderation einkreisen, schwächen und zusammenbrechen lassen und so die Ausbreitung von US-Militärstützpunkten in ganz Zentralasien vorantreiben zu können („forging a broad-based military presence“), was wiederum ermöglicht hätte, Chinas Wachstum zu kontrollieren, sodaß westliche Unternehmen eine dominante Position in der Region hätten einnehmen können. Eben dies hat Clinton salopp als „rebalancing“ bezeichnet: das mutmaßliche Auftreten westlicher Unternehmen als Hauptakteure in der bevölkerungsreichsten und wohlhabendsten Region der Welt. Bislang hat Putin die Verwirklichung dieses Plans verhindert.

Umgekehrt haben die USA und ihre Verbündeten Putins Plan, ein „eurasisches“ Groß-Europa zu schaffen, einen Wirtschaftsraum, der sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt, scheitern lassen. 2012 faßte Putin diesen Plan wie folgt zusammen: „Rußland ist ein unveräußerlicher und organischer Teil Groß-Europas und der europäischen Zivilisation. Unsere Bürger verstehen sich als Europäer (…). Deshalb schlägt Rußland einen gemeinsamen Wirtschaftsraum vom Atlantik bis zum Pazifik vor, eine Gemeinschaft, die von russischen Experten als ‚Europäische Union‘ [im Orig. ‚the Union of Europe‘] bezeichnet wird und die Rußlands Potenzial bei seiner wirtschaftlichen Ausrichtung auf das ’neue Asien‘ stärken wird.“

Damals war Putin nicht klar, daß Washington alles in seiner Macht Stehende tun würde, um eine weitere Integration zu blockieren, da es erkannt hatte, daß die wirtschaftliche „Harmonisierung“ Europas und Asiens (in Form einer Freihandelszone) eine existenzielle Bedrohung für das „unipolare“ Weltmodell darstellte. Der politische Analyst Jack Rasmus schrieb in Counterpunch: „Hinter den Sanktionen steht das Ziel der USA, Rußland aus der europäischen Wirtschaft zu verdrängen. Europa war allzu verbunden mit und abhängig von Rußland. Nicht nur sein Gas und seine Rohstoffe, sondern auch die Handelsbeziehungen und Geldkapitalströme zwischen Rußland und Europa haben sich vor der Ukraine-Krise, die den Anlaß für die Einführung der Sanktionen bildete, in vielerlei Hinsicht vertieft. Die wachsende wirtschaftliche Integration Rußlands und Europas bedrohte die langfristigen wirtschaftlichen Interessen der US-Kapitalisten. Aus strategischer Sicht konnte der von den USA herbeigeführte Staatsstreich in der Ukraine daher als Mittel zur Provokation einer russischen Militärintervention betrachtet werden, d.h. als ein notwendiges Ereignis zur Verschärfung und Ausweitung der Wirtschaftssanktionen, die letztlich die wachsenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen Europa und Rußland langfristig kappen würden. Diese Trennung wiederum würde nicht nur sicherstellen, daß die US-Wirtschaftsinteressen in Europa dominant bleiben, sondern auch den US-Interessen in Europa und der Ukraine neue Gewinnmöglichkeiten eröffnen (…).“ („The Global Currency Wars“, Jack Rasmus, in CounterPunch, 13. März 2015)

Hillary Clinton ging so weit zu behaupten, daß Putins Versuch, eine kontinentübergreifende Freihandelszone zu schaffen, in Wirklichkeit der Versuch sei, „die Region wieder zu sowjetisieren“ (…). „Lassen Sie uns keinen Fehler machen“, sagte sie. „Wir wissen, was das Ziel ist, und wir versuchen, wirksame Wege zu finden, um die Entwicklung zu verlangsamen oder zu verhindern.“ Dies erklärt, warum die USA so viel Aufwand betreiben, um den Transport von Erdgas aus Rußland nach Deutschland durch NordStream zu verhindern. Die Pipeline schafft wirtschaftliche Verflechtungen, welche die Beziehungen zwischen der EU und Rußland weiter stärken und gleichzeitig die regionale Vormachtstellung der USA untergraben werden. US-Beamte befürchten, daß eine Stärkung der Beziehungen zwischen Moskau und Europa schließlich zur Aufgabe des US-Dollars führen könnte, was dessen mächtige Funktion als Weltreservewährung beenden würde (…).

Es hat den Anschein, daß das übergeordnete Ziel der US-Politik in der Ukraine darin besteht, das weitere wirtschaftliche Zusammengehen von Asien und Europa zu unterbinden. Die Vereinigten Staaten wollen den Energiefluß von Ost nach West kontrollieren, sie wollen eine faktische Mautstelle zwischen den Kontinenten errichten, sie wollen sicherstellen, daß diese Geschäfte in US-Dollar abgewickelt und in US-Staatsanleihen umgewandelt werden, und sie wollen sich zwischen die beiden wohlhabendsten Märkte des 21. Jahrhunderts stellen. Die Ukraine ist eine wichtige Landbrücke, welche die EU mit Zentralasien verbindet. Washington will diese Brücke kontrollieren, damit es seine Macht weiter nach Osten ausdehnen kann.

Vierte Frage
Was will Putin?
Putin hat vollkommen transparent dargelegt, was er für die nationalen Interessen Rußlands hält, und zwar in einem offiziellen staatlichen Dokument aus dem Jahr 2013 mit dem Titel Konzept der Außenpolitik der Russischen Föderation, das klar und deutlich formuliert ist.

Darin heißt es: „Die gegenwärtige Phase der globalen Entwicklung ist durch tiefgreifende Veränderungen in der geopolitischen Landschaft gekennzeichnet, die größtenteils durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelöst oder beschleunigt wurden. Die internationalen Beziehungen befinden sich in einem Übergangsprozeß, dessen Kernstück die Schaffung eines polyzentrischen Systems der internationalen Beziehungen ist. Dieser Prozeß ist nicht einfach. Er wird von zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen auf globaler und regionaler Ebene begleitet. Die internationalen Beziehungen werden immer komplexer und unberechenbarer. Die Fähigkeit des Westens, die Weltwirtschaft und -politik zu dominieren, nimmt weiter ab. Das globale Macht- und Entwicklungspotenzial ist nun breiter gestreut und verlagert sich nach Osten, vor allem in den asiatisch-pazifischen Raum. Das Auftreten neuer globaler wirtschaftlicher und politischer Akteure, wobei die westlichen Länder versuchen, ihre traditionellen Positionen zu bewahren, verschärft den globalen Wettbewerb, was sich in einer zunehmenden Instabilität der internationalen Beziehungen äußert. (…)

Mit der Tendenz zur Dezentralisierung des globalen Machtsystems entstehen regionale Machtzentren als Grundlage für das polyzentrische Modell der Welt (mit den Vereinten Nationen als weiterer Grundlage), welche die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Welt widerspiegeln. Neue Zentren des wirtschaftlichen Wachstums und der politischen Macht übernehmen zunehmend Verantwortung für ihre jeweiligen Regionen. Die regionale Integration wird zu einem wirksamen Mittel, um die Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Staaten zu steigern (…) (Concept of the Foreign Policy of the Russia Federation, Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Russischen Föderation, autorisiert von Präsident Putin am 12. Februar 2013)

Dies ist eine kurze, aber ziemlich genaue Darstellung der jüngsten Geschichte. Ja, die Finanzkrise hat die USA in eine wirtschaftliche Schieflage gebracht, in der die Aktienmärkte durch massive Liquiditätsspritzen der Zentralbanken künstlich gestützt werden, während die Inflation weiter steigt und die Staatsverschuldung auf atemberaubende dreißig Billionen Dollar anschwillt. Dies sind keine Anzeichen von Stärke, sondern von Schwäche, Inkompetenz und Korruption. Und selbst das ist nicht das ganze Bild. Während Washington seine kontraproduktiven Konflikte in Afghanistan, im Irak, in Syrien und in Libyen austrägt, sind andere Machtzentren allmählich stärker geworden und haben ein „polyzentrisches System internationaler Beziehungen“ geschaffen, das die unipolare Weltordnung unweigerlich ablösen wird.

Editorische Nachbemerkung

Dieser Text von Mike Whitney erschien noch vor Ausbruch der Kriegshandlungen in der Ukraine am 3. Februar 2022 auf der amerikanischen Seite unz.com unter dem Titel What Putin Wants. Im Hinblick auf die aktuelle Lage haben wir den Text um jene Passagen (bzw. drei Fragen) gekürzt, in denen eine militärische Aggression Rußlands gegen die Ukraine noch für unwahrscheinlich gehalten wurde – wobei sich der Autor auf entsprechende Äußerungen des ukrainischen Präsidenten Selenskij berufen konnte, der noch vor wenigen Wochen die amerikanischen Angriffswarnungen für übertrieben erklärte. Umso mehr lohnt sich die Lektüre dieses Beitrags, weil er die seit Jahrzehnten sich anbahnenden geopolitischen Weichenstellungen herausarbeitet, die in den aktuellen Krieg münden: „audiatur et altera pars“, man höre auch die andere Seite. Zum Verständnis der Lage empfehlen wir die Bücher von Thomas Fasbender, die niemandem eine Parteinahme abfordern:

Thomas Fasbender: Wladimir W. Putin

Die erste Putin-Biographie eines deutschen Autors seit mehr als zwei Jahrzehnten – weder pro noch contra, weder Anklage noch Verteidigung. Stattdessen eine klassische Biographie, gut lesbar erzähltes Leben. Der Großvater: Lenins Leibkoch in den Jahren nach der Revolution. Die Eltern: einfache Leute im zerschossenen Leningrad der Nachkriegszeit. Der Sohn: ein KGB-Offizier, den der Weltgeist aus obskurer DDR-Provinz ins höchste Staatsamt spült. Zahllos sind die Narrative und Deutungen, die sein Wirken begleiten. Aber haben sie das Rätsel gelöst? Wer ist der Mann, der Russland auf einen eigenen Weg gebracht hat? Der dem Selbstverständnis der Westeuropäer in die Parade fährt? Thomas Fasbender ist kein Verehrer und kein Verächter, er blendet nichts aus, nicht die Vorwürfe, nicht die Anschuldigungen, nicht die fundamentale Kritik. So wird die Biographie zum Spiegel des epochalen Konflikts, der mit Putins politischem Werdegang in eins fällt, und zum Porträt Russlands im Aufgang einer neuen Zeit.

Thomas Fasbender: Freiheit statt Demokratie

Der Mythos von den „Befreiungsbewegungen“ hält sich hartnäckig: Gender-

Russland ist ein Ärgernis. Zu diesem Schluss kommen die westlichen Eliten in Politik und Medien. Russland stört – spätestens seit der Ukraine-Krise 2014. »Russland-Versteher« ist zum Schimpfwort verkommen. Eindrucksvoll schildert Thomas Fasbender, wie anders Russland in der Tat ist. Anders als die westeuropäischen Vorurteile glauben machen und anders als das westeuropäische Ideal einer zeitgemäßen Demokratie.

In dreizehn abwechslungsreichen Kapiteln und vielen eindrucksvoll verdichteten Szenen erzählt Fasbender vom Alltag in Russland und von seiner dramatischen Geschichte. Er beschwört die Urtümlichkeit des riesigen Landes zwischen Ostsee und Pazifik, zwischen Arktis und Kaukasus, und er vermittelt intime Einblicke in die schicksalsgeprüfte Mentalität seiner Bewohner.

Sein Fazit: Russland will den Weg des Westens nicht gehen, und Russland wird ihn nicht gehen. Und das beileibe nicht wegen seines Präsidenten. Der russische Mensch hat sein eigenes Verständnis von Freiheit, und das verträgt sich nicht mit der europäischen Verliebtheit in Vernunft- und Gesetzestreue … Fasbender hat ein Buch mit Herz und Verstand und in einer besonders schönen Sprache geschrieben, ein Buch gegen den Strom, das eine fremde, nahe Welt erschließt.

Metropolit Hilarion von Wolokolamsk: Die Zukunft der Tradition

Manche glauben, die Grenze zwischen Gut und Böse verliefe zwischen Europa und Russland, zwischen dem säkularen »Fortschritt« des Westens und der christlichen »Reaktion« des Ostens. In der Tat wurden in Russland seit dem Untergang des Kommunismus 26.000 Kirchen neu errichtet oder wiedereröffnet – drei Kirchen pro Tag. Während Europa mehr und mehr mit seinem christlichen Erbe bricht, erlebt das Christentum in Russland eine Renaissance.

Im Bewusstsein dieser weltgeschichtlichen Spannung spricht Metropolit Hilarion über das Verhältnis der russischen Orthodoxie zu Katholizismus, Protestantismus und Säkularismus, über die Lage in Syrien, über Christenverfolgung, Märtyrer und Heilige, über »die kinderreiche Familie und die Zukunft der Menschheit« – und nicht zuletzt darüber, dass es keine wahre Sittlichkeit ohne die Perspektive des ewigen Lebens gibt. Dieses Buch verdeutlicht die Positionen der russischen Orthodoxie und zeigt ihre Sicht auf das Europa der Gegenwart.

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