Nächster Akt im europäischen Asyl-Drama

von Felix Menzel vom 3. März 2020.

Erwartungsgemäß ist der „Türkei-Deal“ gescheitert. Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist es sichtlich eine große Freude, immer mehr Migranten dazu zu animieren, nach Europa aufzubrechen. „Hunderttausende haben sich in Bewegung gesetzt, bald werden wir Millionen erreichen“, prophezeit er in dem Wissen, daß eine Wiederholung der Ereignisse von 2015 viele europäische Regierungen ins Wanken bringen dürfte.

Erdogans strategischer Vorteil beruht dabei einzig und allein auf der beharrlichen Weigerung globalistischer, linksliberaler Kräfte, die eigenen Grenzen zu sichern. Würden sich Merkel, Macron und Co. dazu morgen bereiterklären, müßten wir keine zweite Asylkrise mit Menschenmassen befürchten, die über Autobahnen und Trampelpfade in den gelobten Sozialstaat marschieren.

Genau darauf freuen sich allerdings schon bestimmte Politiker. Die Grünen fordern bereits jetzt, Deutschland solle vorangehen, selbst wenn „nicht alle mitmachen“, und die „eigenen Kapazitäten an Flüchtlingsunterkünften wieder aktivieren“ (Annalena Baerbock).

Zu diesem „Exzeß“ an „moralischer Überschwenglichkeit“ hat sich die französische Historikerin Chantal Delsol im Buch Renovatio Europae sehr klug geäußert. Die Professorin kann die moralischen Erwägungen der Linken sehr gut nachvollziehen, denn auf individueller Ebene seien ihre Argumente stimmig. Wenn ich einen Menschen vor dem Ertrinken retten kann, so muß ich dies tun. Mehr noch: Es ist sogar meine moralische Pflicht. Ebenfalls läßt sich kaum etwas dagegen einwenden, wenn jemand bei sich zu Hause einen Flüchtling auf eigene Kosten aufnimmt, sofern dieser sich friedlich verhält und grundsätzliche Integrationsbereitschaft signalisiert. Solche altruistische Hilfe ist natürlich ein Zeichen außerordentlicher Großzügigkeit und daher moralisch in Ordnung.

Im Gegensatz zu den Linken hat Delsol nun aber erkannt, daß die hohen Werte der Moral immer wieder mit den hohen Werten der Politik in Konflikt geraten. Die Flüchtlingsfrage sei „eminent tragisch“, weil wir in einem Dilemma zwischen Helfen-Wollen und dem Erhalt unserer Gesellschaft stecken. Unter Berufung auf Cicero betont Delsol folgerichtig: „Ein Individuum kann sich dafür entscheiden, alles der Moral zu opfern, sowohl seine Existenz als auch sein Leben: Er kann sich entscheiden, für das Gute zu sterben. Aber eine Gesellschaft hat nicht das Recht dazu. Sie ist gewissermaßen verantwortlich für ihre Unsterblichkeit.“

Es gehört somit zur Tragik der Politik, daß sie hin und wieder vielleicht sogar berechtigte moralische Wünsche enttäuschen muß, um dem großen Ganzen gerecht werden zu können. Wer realistisch an das Leben herangeht, wird eine Vielzahl dieser tragischen Polaritäten erkennen. Auch Mann und Frau sind unterschiedlich, befinden sich in einem ständigen Kampf und brauchen sich doch gegenseitig.

Komplementäre Gegensätze anzuerkennen und zwischen ihnen nach einem Gleichgewicht zu suchen, ist ein urkonservatives Anliegen. „Denn wenn man eines der Prinzipien der Polarität zuungunsten eines anderen exzessiv bevorteilt, (…) beginnt die Verwüstung“, unterstreicht Delsol, die daraus treffend schlußfolgert: „Gutmenschentum provoziert Extremismus.“

Es käme dazu, weil die Moderne den tragischen Charakter der Geschichte leugne. Stattdessen werde sie als Drama angesehen, in dem von Vornherein feststehe, was das Gute ist. Unklar sei lediglich, wie dieses Gute erreicht werden könne. Delsol hebt damit ihre Analyse der Flüchtlingsfrage auf ein beeindruckendes, philosophisches Niveau, das die Gegenseite sprachlos machen dürfte.

(Bild: Pixabay)


David Engels: Renovatio Europe.

Chantal Delsol: Immigration: Gastfreundschaft und Allgemeinnutz. Eine alptraumhafte Antinomie. In: David Engels (Hg.): Renovatio Europae. Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas. Lüdinghausen und Berlin 2019.

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