Die irrationale Seite der Infosphäre

von Felix Menzel vom 16. September 2021.

Technokratische Herrschaftssysteme zeichnen sich durch ihren Anspruch auf Objektivität aus. Sie berufen sich auf mathematisch korrekt arbeitende Wissenschaften, deren Erkenntnisse nun einmal unumstößlich seien, so die Behauptung. Die Politik macht sich damit klein und gibt vor, nur das zu exekutieren, was „die“ Wissenschaft erfolgreich erforscht habe.

In den Wirtschaftswissenschaften nahm dieses Denken mit William Stanley Jevons an Fahrt auf. In seiner „Theorie der politischen Ökonomie“ von 1871 meinte er, die Volkswirtschaftslehre sei nur dann eine Wissenschaft, wenn sie sich als mathematische Wissenschaft begreife. Schließlich habe sie mit „Quantitäten“ zu tun.

Jevons erweckte also den Eindruck, Wirtschaften beruhe einzig und allein darauf, mit Produktionsmengen und Verkaufspreisen zu hantieren. Daß es für Unternehmen auch darum geht, subjektive Vorlieben bzw. psychologische Effekte zu erkennen, gesellschaftliche Risiken einzuschätzen und Visionen für die Zukunft zu entwickeln, blendete er weitestgehend aus.

Die schleichende Entwicklung, die dadurch losgetreten wurde, darf keineswegs unterschätzt werden. Über das Einfallstor der Wirtschaftswissenschaften hat in den letzten 150 Jahren eine sukzessive Mathematisierung des sozialen Raums stattgefunden, die der Politik die Agenda diktiert: Der Staat bzw. die Notenbanken hätten für Wirtschaftswachstum zu sorgen, propagieren so die Anhänger von John Maynard Keynes. Zur Rechtfertigung führen sie an, die Schuldenlast sei gerade noch so zu ertragen. Erst wenn sie auf ein griechisches Niveau steige, sei sie problematisch. Ob der dahinterstehende Bewertungsmaßstab stimmt und sich in der Praxis bewährt, bleibt indes offen.

Noch frappierender ist die Zahlengläubigkeit in der Klima- und Corona-Debatte. Wie Marc Krecher in seinem neuen Buch Vom Klimawandel zu Corona schlüssig darlegt, ergeben sich in beiden Fällen Schreckensszenarien, indem mit Exponentialfunktionen Prognosen erstellt werden. Durch den Zauber der Mathematik gerät dabei in Vergessenheit, daß eine Zukunftsprognose trotz richtiger Daten für die Gegenwart immer noch eine Prognose bleibt und keine 100-Prozent sichere Vorhersage ist.

Gerade die Finanzmärkte zeigen die Ungewissheit zukünftiger Ereignisse und Kursentwicklungen. Würde uns die Datenflut in den Zustand vollkommenen Wissens versetzen, müßten wir alle schon längst Milliardäre sein, weil wir dann die Vorgänge an den Börsen richtig antizipieren könnten. Mit ähnlich absurden Wissensillusionen arbeiten der Weltklimarat, das Robert-Koch-Institut und andere mächtige Akteure, die mit ihren Zahlen die Politik lenken. Ihnen ist bisher auch nicht beizukommen, indem man im Nachhinein ihre Prognosen auf den Prüfstand stellt oder nachweist, dass die Prognosen je nach politischer Großwetterlage im Handumdrehen geändert wurden.

Der italienische Publizist Francesco Boco geht deshalb in der neuen TUMULT noch einen entscheidenden Schritt weiter: Er versucht sich an dem Nachweis, daß die „Infosphäre (…) wie das menschliche Gehirn nicht nur eine rationale Struktur“ habe. „Die Ratio paart sich stets mit dem Rätsel und dem Chaos“, führt Boco pointiert aus.

Die Aufgabe des Menschen ist es folglich, Daten und Zahlen zu enträtseln, nach wichtig (für vernünftige Entscheidungen notwendig) und unwichtig (Momentaufnahmen aus dem Chaos) zu sortieren und daraus dann souveräne Entscheidungen abzuleiten. Wie schwer das ist, deutet Boco mit einer Labyrinth-Metapher an. Es gehe darum, sich darin nicht zu verirren, sondern den Überblick über das Labyrinth zu gewinnen. Genau das ist die Aufgabe des philosophischen Denkens und der Geisteswissenschaften in Zeiten von Big Data, ließe sich ergänzen.

Marc Krecher: Vom Klimawandel zu Corona

Corona, Klimawandel und „Great Reset“: diese drei Phänomene dominieren die politischen Debatten unserer Zeit. Aufgenommen hat diese Erzählstränge der Diplom-Geologe Marc Krecher. Nicht nur haben alle drei – als Spielarten einer post-modernen, post-faktischen und misanthropen Systemtheorie – die gleichen Wurzeln, sie alle weisen auch auf dasselbe Ziel: eine „bessere“ Welt. Sicherheit, Nachhaltigkeit, Solidarität heißen die neuen obersten Werte. Hygiene und CO2-Neutralität statt Freiheit und Demokratie? Virologen, Klimaforscher und Politiker schüren mit immer neuen, immer drastischeren Bedrohungsszenarien Angst vor der Zukunft und empfehlen nie dagewesene Eingriffe in unser aller Leben, um nichts weniger als die Welt zu retten – darunter macht man es heute nicht mehr.

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