Am Rand der Schütterzone

von Thomas Fasbender.

„Nach einem etwaigen Ende der russischen Hegemonie über Osteuropa bliebe hier für Deutschland mithin nur das Schlimmste, was ihm überhaupt zu passieren vermag: die konstitutionelle Einkreisung durch das erneuerte Bündnis von liberalem Westen und osteuropäischem Nationalismus.“ Der Autor dieses in den späten 1950ern geschriebenen Satzes war ein deutscher Privatgelehrter, ein Konservativer, der in keine Schublade zu passen scheint, am wenigsten in die des europäischen Nachkriegs-Enthusiasmus. Nicht wenig von dem, was Johannes Barnick (1916-1987) geschrieben hat, gilt heute zu Recht aus der Zeit gefallen. Anderes, wie der zitierte Satz zur Lage Deutschlands zwischen den Nachbarn Liberalismus und Nationalismus, zwischen Baum und Borke, bestätigt sich mit offenbarer Evidenz. Nicht, weil Barnick hellseherische Talente besessen hätte. Nein. Es war allein sein festverwurzelter Skeptizismus, der ihn an grundsätzlichen Wahrheiten festhalten ließ. Dazu gehört: Was immer der Fortschritt bringen mag, Geographie und Geschichte sind Tatsachen.

Sechs Jahrzehnte später erkennen wir, dass sich nichts geändert hat. Mit dem einen Unterschied: Der Zeitgeist und die herrschende Meinung in der Wissenschaft glauben nicht mehr an die Tatsächlichkeit von Geographie und Geschichte. Ihrer Ansicht nach bestimmen Abstraktionen das Verhältnis der Menschen und Staaten. Autonomie und Souveränität. Jedes Volk, jede Gesellschaft kann die Demokratie wählen (oder sich bringen lassen). Wenn es überhaupt noch Völker gibt – auch das ist umstritten. Wer Geographie und Geschichte und damit auch Herkunft und Tradition als Determinanten anerkennt, gilt als Kulturrelativist. In manchen Augen gibt es kaum Schlimmeres.

Setzt man sich darüber hinweg und beurteilt die europäischen Verhältnisse nach ihrer historischen Genese, so stößt man bald auf den Begriff Schütterzone. Selbst der dtv-Atlas zur Weltgeschichte verwendet ihn; entstanden ist er in der Zwischenkriegszeit nach 1918. In der Tektonik beheimatet, beschreibt Schütterzone die Gebiete, in denen Erdbeben die mächtigsten Verwerfungen hinterlassen. Wo geologische Strukturen verloren gehen, bricht der Stein. Dort verschwinden Städte und Dörfer.

Auf die Geschichte angewandt, beschreibt der Begriff die Gebiete des Kontrollverlusts und der Zusammenstöße. Der Klassiker ist das Land zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. Das 19. Jahrhundert hindurch war es in den Strukturen Russlands, Preußens und der Doppelmonarchie aufgehoben (der äußerste Süden im Reich des Sultans). Mit dem Beben des Ersten Weltkriegs, den Pariser Vorortverträgen und den Konflikten der unmittelbaren Nachkriegszeit gewannen die Völker dieser auch Zwischeneuropa genannten Gebiete ihre Eigenstaatlichkeit – und Europa eine Schütterzone.

In Deutschland sind die Kenntnisse der Zwischenkriegsgeschichte von Aufstieg und Machtergreifung des Nationalsozialismus überlagert. Kaum jemand weiß von den Auseinandersetzungen zwischen Ungarn, Tschechen, Slowaken, Rumänen und Polen, von den faschistischen und protofaschistischen Bewegungen jener Jahre und jener Region. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs sorgten dann Stalin und die Sowjetunion für eine Befriedung des Raums östlich von Oder, Böhmerwald und Burgenland. Für ein halbes Jahrhundert schien es, als hätte es das Problem nie gegeben.

Nach dem Kalten Krieg nahmen die Westmächte sich Ostmitteleuropas an. Die EU- und NATO-Erweiterungen dienten auch der Vermeidung allfälliger ungarischer, polnischer und anderer Eigenwege. Inwieweit das erfolgreich war, wird sich weisen.

Mit dem Ukrainekrieg rücken die europäischen Machtgewichte entschieden Richtung Osten. Das Baltikum ruft nach Schutz und Abschreckung; Polen sieht seine Chance. Der wahrscheinliche Ausgang des Krieges – eine ukrainische Teilung in der einen oder anderen Form – treibt die Ukraine (was von ihr übrig ist) in die Arme einer polnisch-litauischen Allianz unter dem militärischen Schirm der Angelsachsen. Sollte die Ukraine siegen und ihr Territorium bewahren, gilt das erst recht.

Deutschland, hin und hergerissen zwischen dem Wunsch nach universaler Geltung liberaler Werte und einem gesamteuropäischen Frieden, steht am Straßenrand der Geschichte, kraftlos und machtlos. Frankreich, Italien und das übrige Westeuropa haben Besseres zu tun, als gordische Knoten in Ostmitteleuropa aufzudröseln. Dort dominieren die Folgen der Erderwärmung, die Migration aus dem Süden, soziale Spannungen. Aus der Schütterzone Zwischeneuropa wird schon mittelfristig ein mächtiger Riegel, der genau wie vor 500 Jahren zwischen Russland und dem Westen liegt.

Johannes Barnick: Deutsch-russische Nachbarschaft

Dieses Buch aus dem Jahre 1959 liest sich, als wäre es für heute geschrieben worden: ein außenpolitischer Traktat mit detaillierten Einblicken in die psychologischen, geopolitischen und machtphysikalischen Bedingtheiten der deutsch-russischen Beziehungen in Geschichte und Gegenwart. Das aktuelle Thema des Privatgelehrten Johannes Barnick (1916–1987) ist, anders als der Titel verheißt, keineswegs die deutsch-russische »Nachbarschaft«, sondern vielmehr »Nachbarsnachbarschaft«. Denn zwischen Deutschland und Rußland gibt es die bekannte »Schütterzone« von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer als »ernstesten weltpolitischen Krisenherd«. Bereits vor über sechzig Jahren warnte Barnick weitsichtig davor, daß »ein Bündnis von liberalem Westen und osteuropäischem Nationalismus« für Deutschland eine neuerliche Einkreisung bedeuten würde – und darüber hinaus die Gefahr eines Dritten Weltkrieges.

Thomas Fasbender: Wladimir W. Putin

Die erste Putin-Biographie eines deutschen Autors seit mehr als zwei Jahrzehnten – weder pro noch contra, weder Anklage noch Verteidigung. Stattdessen eine klassische Biographie, gut lesbar erzähltes Leben. Der Großvater: Lenins Leibkoch in den Jahren nach der Revolution. Die Eltern: einfache Leute im zerschossenen Leningrad der Nachkriegszeit. Der Sohn: ein KGB-Offizier, den der Weltgeist aus obskurer DDR-Provinz ins höchste Staatsamt spült. Zahllos sind die Narrative und Deutungen, die sein Wirken begleiten. Aber haben sie das Rätsel gelöst? Wer ist der Mann, der Russland auf einen eigenen Weg gebracht hat? Der dem Selbstverständnis der Westeuropäer in die Parade fährt? Thomas Fasbender ist kein Verehrer und kein Verächter, er blendet nichts aus, nicht die Vorwürfe, nicht die Anschuldigungen, nicht die fundamentale Kritik. So wird die Biographie zum Spiegel des epochalen Konflikts, der mit Putins politischem Werdegang in eins fällt, und zum Porträt Russlands im Aufgang einer neuen Zeit.

Thomas Fasbender: Freiheit statt Demokratie

Russland ist ein Ärgernis. Zu diesem Schluss kommen die westlichen Eliten in Politik und Medien. Russland stört – spätestens seit der Ukraine-Krise 2014. »Russland-Versteher« ist zum Schimpfwort verkommen. Eindrucksvoll schildert Thomas Fasbender, wie anders Russland in der Tat ist. Anders als die westeuropäischen Vorurteile glauben machen und anders als das westeuropäische Ideal einer zeitgemäßen Demokratie.

In dreizehn abwechslungsreichen Kapiteln und vielen eindrucksvoll verdichteten Szenen erzählt Fasbender vom Alltag in Russland und von seiner dramatischen Geschichte. Er beschwört die Urtümlichkeit des riesigen Landes zwischen Ostsee und Pazifik, zwischen Arktis und Kaukasus, und er vermittelt intime Einblicke in die schicksalsgeprüfte Mentalität seiner Bewohner.

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