Europa und die russische Zivilisation

von Felix Menzel vom 30. Januar 2020.

In den Wochen um den 75. Jahrestag der „Befreiung“ am 8. Mai führen die USA mit Unterstützung der Bundeswehr die Militärübung „Defender Europe 2020“ durch. Dazu werden gerade 20.000 Soldaten und 33.000 Fahrzeuge nach Osteuropa verlegt. Es handelt sich dabei um die größte Truppenverlegung der letzten 25 Jahre.

Offiziell heißt es, dies habe nichts mit Rußland zu tun. Doch wer in der Geopolitik an Zufälle glaubt, ist bestenfalls naiv. Worum geht es also bei der schon länger schwelenden Konfrontation zwischen Rußland und dem Westen?

Rolf Peter Sieferle erklärt dazu in seinem Mammutwerk Krieg und Zivilisation, Rußland befinde sich aktuell in einer Situation der „ökonomischen Schwäche, begleitet von militärischer Stärke“. Dadurch bestehe „immer die Gefahr von irrationalen Abenteuern“. Diese historisch häufig vorzufindende Konstellation korrespondiert mit der Unberechenbarkeit der russischen Intelligenz, die seit dem 19. Jahrhundert bis hin zur Sympathie für Terroranschläge reicht.

Diese Unberechenbarkeit hat sich bis heute erhalten, wie Thomas Fasbender in seinem Buch Freiheit statt Demokratie analysiert. Zu den „intellektuellen Fackelträgern Eurasiens“ gehörten von links bis rechts die verschiedensten Ideologen: „Sozialisten, Patrioten, Nationalisten, Monarchisten, eingeschworene Orthodoxe und natürlich die Verteidiger der Russischen Zivilisation“.

Was damit deutlich werden sollte: Man kann aus westlicher Perspektive tatsächlich eine Angst vor Rußland entwickeln und wird dafür an der Oberfläche stichhaltige Argumente finden. Trotzdem wird damit das russische Wesen nicht annähernd korrekt erfaßt. Fasbender erläutert dazu zunächst ganz nüchtern: „Die fixe Idee einer Sonderstellung, das Bewusstsein des Andersseins, wurzelt in jahrhundertelanger Abgeschiedenheit und territorialer Randlage.“

Diese geographischen Gegebenheiten seien der Grund dafür, weshalb in Rußland gesteigerter Wert auf „Befehl und Gehorsam“ gelegt werde. Nur so „scheint es in dem wilden Land zu funktionieren“. Der liberale Westen macht daraus gern vorschnell eine Diktatur. Doch die Strenge der russischen Gesetze sei nur die eine Seite der Medaille, so Fasbender, da „ihre bedingte Geltung“ aufgrund der Größe und ethnischen Vielfältigkeit des Landes stets mitbedacht werden müsse.

Richtig ist, daß Rußland den „irren Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ (Akif Pirinçci) nicht mitmacht. Dennoch werden Minderheiten „in ihrem Existenzrecht geschützt“, betont Fasbender entschieden. Dieses „Gegenmodell zur universalistischen, liberalen Zivilisation des Westens“ habe Tradition und werde in Rußland seit 200 Jahren auf den Begriff der „Russischen Zivilisation“ gebracht.

Ein weiteres Kennzeichen dieser Kultur sei das russische „Elefantengedächtnis“. Selbst die Aggressionen westlicher Staaten, die schon viele Jahrhunderte zurückliegen, sind dort noch abgespeichert. Vor diesem Hintergrund ist die Militärübung „Defender Europe 2020“ mindestens unsensibel. Sie ignoriert das russische Denken, das Fasbender gut auf den Punkt bringt:

„Während die westlichen Politiker beschwören, alle NATO-Soldaten seien ‚Gute‘, bemüht man in Russland einen ganz anderen Vergleich: Wer hätte 1931 vorhergesagt, dass Deutschland zehn Jahre später mit 150 Divisionen in die Sowjetunion einmarschiert? Zehn Jahre, nicht länger als 2005 bis 2015. Noch Fragen?“


Thomas Fasbender: Freiheit statt Demokratie.

In dreizehn abwechslungsreichen Kapiteln und vielen eindrucksvoll verdichteten Szenen erzählt Fasbender vom Alltag in Russland und von seiner dramatischen Geschichte. Er beschwört die Urtümlichkeit des riesigen Landes zwischen Ostsee und Pazifik, zwischen Arktis und Kaukasus, und er vermittelt intime Einblicke in die schicksalsgeprüfte Mentalität seiner Bewohner.

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