Wir schauen einander wieder an

vom 11. März 2020.

Die Corona-Krise, die politisch-medial nun täglich immer weiter hysterisiert wird, führt zu seltenen, ja kostbaren Momenten im öffentlichen Raum. Einer ist der, daß man als Passant, als Wartender beim Bäcker, als Mitfahrer im Bus, sein direktes Gegenüber nun anders anschaut als sonst, es überhaupt erst wieder ins Auge faßt. Sicher, der Anlaß ist kein erfreulicher, in unseren Blicken steckt nicht zuletzt Argwohn, entstehend aus der Sorge, daß der andere, käme er auch nur zwei Schritte näher, uns womöglich anstecken könnte. Daß die offizielle Zahl der tatsächlich Erkrankten – Stand 11. März – in Deutschland noch unter 2000 liegt und die Ansteckungswahrscheinlichkeit also nicht eben hoch ist, spielt dabei keine Rolle. Der andere, das Gegenüber, ist mitbetroffen von der aktuellen Krise, so wie man selbst. Das bringt ihn ungewohnt nahe, und sei es, indem er eine mögliche Gefahr darstellt. Doch dürfte er den gleichen Argwohn auf einen selbst hin haben, und manchmal sieht man genau das in seinen Augen.

Das ist der Moment, den ich kostbar nenne. Denn in den paar Sekunden, die er überhaupt währt, kommt eine urtümliche, in uns eingeborene und vom Zeitgeist so oft verleugnete Freund-Feind-Dichotomie ins Spiel. Wir fragen uns, ob der andere uns womöglich schaden kann, grundlegender in diesen Tagen als sonst. Aber wir verzeihen es auch viel eher, daß der andere sich das Gleiche auf uns hin ebenfalls fragt. Er und wir sind beide herausgefordert. In der einen zufälligen oder schicksalshaften Begegnung, die sich nicht wiederholen wird. Wir lesen in den Augen des anderen. Es ist, als ob wir ihm allein auf weiter Flur, auf offenem Feld begegneten („Orten, an denen man sich immer grüßt“). Wir sind im Bezug zu ihm auf uns gestellt. Niemand sonst, nicht der Staat, nicht das Smartphone, nicht die Erinnerung an das gestrige Besäufnis, kann als Puffer und Ausrede dienen, um diese Konfrontation anders als hart und klar zu gestalten.

Man geht aus solchen Begegnungen wie frisch gewaschen hervor. Oder als hätte man Eis zerbissen. Und man merkt: die Härte ist nicht einmal von Dauer. Wie gesagt, es dauert alles ja bloß eine Sekunde oder kaum länger. Im direkten Anschluß mag sich ein Lächeln einstellen, etwas Verschmitztes, etwas Wissendes, das sich aber nicht ausspricht, in der eigenen Miene wie der des anderen. Dann mag es scheinen, als wäre nichts gewesen. Und doch hat man an etwas Essentielles und ansonsten Verschüttetes gerührt. Im Draußen, auf der Straße, der „Agora“, die wir alle doch höchstens aus alten Büchern kennen und selbst die haben wir nie ganz gelesen.

Gutes über den öffentlichen Raum, die Sehnsucht nach einem Miteinander darin, bei Roger Scruton.

(Foto: der kühle, prüfende, ja stechende und dabei dennoch offene, ins Weite gehende Blick. Ewiges Faszinosum bei Henry Fonda.)

Roger Scruton: Bekenntnisse eines Häretikers

Während der Zeitgeist einmal mehr nach Utopia entwischt, betrachtet Roger Scruton die sitzengelassene Gegenwart: in zwölf Essays denkt er nach übers Regieren, Bauen und Tanzen, über das Sprechen vom Unsagbaren, über Trauern und Sterben, darüber, wie so getan wird, als ob, wie Leute sich hinterm Bildschirm verstecken, wie Tiere geliebt und Etiketten geklebt werden, über das Bewahren der Natur und die Verteidigung des Westens.

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