Dokumentation eines publizistischen Exils

Vom 19. August 2016.

Im Alter von 93 Jahren ist am 18. August der Historiker und Geschichtsphilosoph Ernst Nolte in Berlin verstorben. Im Landt Verlag erschienen von ihm die Bücher »Die dritte radikale Widerstandsbewegung: Der Islamismus« (2009) sowie »Italienische Schriften. Europa – Geschichtsdenken – Islam und Islamismus. Aufsätze und Interviews aus den Jahren 1997 bis 2008« (2011). Die Zusammenarbeit mit Ernst Nolte beruhte darauf, dass die großen Publikumsverlage, die seine Bücher zuvor verlegt hatten, im Nachgang des Historikerstreits von 1986/87 nicht gewillt waren, seine späten Arbeiten herauszubringen. Zum Erscheinen von Noltes »Italienischen Schriften« hatte ich eine kleine Ansprache vorbereitet. Der heutige Tag ist geeignet, diese Ansprache anstelle eines Nachrufs einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren als der kleinen Schar von Gästen, die sich vor fast fünf Jahren, am 18. November 2011, in Berlin um den großen Historiker versammelte. Im Anschluss an die Begrüßung trug Ernst Nolte unter der Überschrift »Am Ende eines Lebenswerkes« vor.

Seien Sie herzlich willkommen zur Vorstellung der Italienischen Schriften. Dieses Buch ist soeben in Berlin erschienen. Niemand hat es verboten. Es die »Dokumentation eines publizistischen Exils« zu nennen und damit nicht die Werke eines zwischen 1933 und 1945 exilierten Autors zu meinen, mag für manche Ohren provozierend klingen. Und dennoch ist das publizistische Exil, von dem hier gesprochen wird, eine Tatsache. Der inkriminierte Autor von heute muss seine Heimat nicht mehr verlassen. Das Exil ist zu einem Raum jenseits des heimatlichen Diskurses und jenseits der wichtigsten heimatlichen Medien geworden.

Was die Struktur unserer Öffentlichkeit, auch der gelehrten Öffentlichkeit, betrifft, kommt ein zweites Phänomen dazu. Da ist nicht nur die Differenz zwischen Leitmedien und dem Rest der Welt. Oft geschieht es auch, dass von den wichtigsten Tageszeitungen und von den größten Sendeanstalten unerhörte Nachrichten verbreitet werden, ohne dass irgendetwas passiert. Das Exil kann zur besten Sendezeit stattfinden. Mit dem merkwürdigen Gefühl, als hielte ich ein eigentlich nicht vorhandenes Werk in Händen, das da ist, und doch nicht da ist, habe ich gestern Abend in Ernst Noltes neuem Buch gelesen. Und ich sagte mir: Morgen wird alles anders.

Von Ernst Nolte ist im Landt Verlag zuvor bereits ein Buch erschienen. Das war seine Monographie über Die dritte radikale Widerstandsbewegung – der Islamismus. Eine Übersetzung ins Italienische ist in Vorbereitung. Das Erscheinen dieses Buches haben wir vor zwei Jahren nur in kleinem Kreis gefeiert; auch auf dieses Werk wollen wir später das Glas heben. Für Sie, lieber Herr Nolte, geht es heute sogar um drei Bücher, denn kurz vor den Italienischen Schriften kamen im Karolinger Verlag Ihre Späten Reflexionen heraus.

Wird morgen alles anders? Falls Rudolf Augstein mit seiner Prognose recht hatte, müssen wir auf dieses Morgen noch etwas warten. Ich lese Ihnen ein Stück aus dem Vorwort zu den Italienischen Schriften vor: »Es wäre an der Zeit«, heißt es dort, »über die beliebte Rede vom ›verfemten‹ oder mindestens ›umstrittenen‹ Historiker einige Überlegungen anzustellen. Die Autoren sollten sich dabei eine der letzten Äußerungen von Rudolf Augstein vor Augen halten, die mir [E. N.] von einer unbedingt verlässlichen Persönlichkeit [es handelt sich um Joachim Fest] mitgeteilt wurde: In fünfzig Jahren werde jeder Einsichtige die Nolteschen Thesen ›für unbestreitbar halten‹. Auf den Einwurf, weshalb er das nicht im Spiegel sage, habe Augstein geantwortet, Fest überschätze seine (Augsteins) Macht und unterschätze zugleich seine Klugheit; er sei ›kein Idiot‹.«

Ich glaube, wir haben allen Grund, Augsteins Optimismus zu teilen. In den Italienischen Schriften, in denen vor allem Auftragsarbeiten für italienische Medien versammelt sind, entfaltet sich noch einmal Ernst Noltes ganze umsichtige Gelehrsamkeit, und zwar nicht nur im Blick auf die Vergangenheit, sondern gerade auch auf die drängende Frage nach der Zukunft Europas. Sie ist das durchgehende Thema der drei Kapitel »Europa«, »Geschichtsdenken«, »Islam« und »Islamismus«. Die großen Konflikte des 20. Jahrhunderts sind noch nicht überwunden – und neue stehen uns bevor. Nolte malt erstaunliche geschichtsphilosophische Vexierbilder, in denen alte Motive in neuer Verkleidung auftreten. So ist zum Beispiel das Recht des Stärkeren auf die politische Bühne zurückgekehrt. Es gibt Kräfte, die unter Berufung auf den Nationalsozialismus nichts mehr von ihm wissen wollen und ganz auf sozialen Ausgleich setzen. Zugleich aber würden sie auf die demografisch übermächtigen Völker des Islam am liebsten mit einer Selbstaufgabe und Selbstpreisgabe Europas antworten – als sei das Gewicht der großen Zahl schon ein ausreichendes Argument für ihr weltgeschichtliches Vorrecht. So kehrt das Recht des Stärkeren zurück – als Verzicht auf jeglichen Widerstand, der mit dem Rassismus-Vorwurf im Keim erstickt wird.

Nolte fürchtet also, dass Deutschland und Europa zum »Gemeinbesitz« der Menschheit umgeformt, dass das Eigentum der Nationen an ihrem Boden in Frage gestellt werden wird. Andererseits gebe es auf Seiten des Islam verständliche Vorbehalte gegen den zum sogenannten »Liberismus« gesteigerten Lebensstil des westlichen Liberalismus. Wo eine große Zahl von Individuen zu der Ansicht gelangt, es komme nur auf die individuelle Selbstverwirklichung an, frei von Forderungen eines Kollektivs, dort ist die praktische Transzendenz, ein Synonym für »Fortschritt« oder besser »Fortschrittlichkeit«, trivial geworden. Ich zitiere: »Die höchste Blüte der okzidentalen Zivilisation wird zur Wurzel des Untergangs«. (S. 30)

Es geht um Bedrohungen von außen und von innen, aber auch darum, dass die Bedrohung von außen Züge einer Rettung trägt. Offensichtlich stoßen der Materialismus, der Individualismus und die sexuelle Permissivität in Dimensionen vor, die die Existenz Europas und der westlichen Welt gefährden. Könnte da nicht der Islam Europa zwingen, sich eines Besseren zu besinnen? Insofern scheint es sich um eine Mischung aus geistiger Sympathie und politischer Warnung zu handeln, wenn Ernst Nolte den Islam hinsichtlich Gläubigkeit, Überzeugungskraft und Kampfwillen probehalber als den Kommunismus des 21. Jahrhunderts bezeichnet.

Es ist eigentlich erstaunlich, dass ein politisch so schwer zu fassender Denker so viel Abwehr erfahren kann. Ernst Nolte ist gleich in mehrfacher Hinsicht vom Geist der Bundesrepublik geprägt. Wenn wir der Biografie von Siegfried Gerlich folgen, vertrat Nolte »in Deutschland als erster mit philosophischer Verve« die These von der Singularität des Holocaust, die dann zur Basis der »negativen Identität« der Deutschen wurde. Nolte hat das jüdische Volk als Statthalter der menschlichen Transzendenz gewürdigt. Ebenfalls in wohlmeinender Absicht hat er der Linken das welthistorische prius zugewiesen. Damit ist die Rechte zwangsläufig dazu verurteilt, unschöpferisch in der »Reaktion« zu verharren. Man fragt sich also, was aus der Sicht der Linken eigentlich dagegen spricht, den Faschismus, wie Nolte es tut, weitgehend als radikalkonservative Gegenrevolution zu deuten. Mehr noch: Er warnt in einer Weise vor der »Selbstüberschreitung« des Menschen, wie es für Jahrzehnte Gemeingut der ökologischen Bewegung war. Und schließlich kann man den hypothetischen Charakter seiner Gedanken, seinen hermeneutisch geprägten Perspektivenreichtum, der auch seinen jüngsten Büchern eignet, als eine Variante der zeitgenössischen mentalitätsgeschichtlichen Methode ansehen, die Nolte in politischer Hinsicht zu einem ausgesprochen vorsichtigen Autor macht, sobald es um existentielle Entscheidungsfragen geht, für die der Historiker ausdrücklich nicht zuständig ist – vielmehr in geradezu basisdemokratischer Redeweise »jeder einzelne«.

Gerlich sagt, dass nicht Nolte sich geändert habe, sondern das intellektuelle Milieu ab Mitte der achtziger Jahre veränderte Maßstäbe an sein Werk anlegt. Die Thesen, derer Nolte unter diesen neuen Bedingungen »schuldig« zu werden begann, waren offenbar nichts weiter als »Abweichungen« innerhalb jenes ursprünglich gemeinsamen und sich dann verändernden Horizonts. Mit der Frage nach dem »rationalen Kern« des Zweiten Weltkriegs und des Hitlerschen Vernichtungsantisemitismus waren gleich zwei Tabus verletzt: Das stets behauptete weltgeschichtliche prius der Linken wollte man keineswegs auf andere Massentötungen bezogen wissen (vor denen auch ältere »westliche« Kolonialmächte nicht zurückschreckt hatten). Zweitens war mit der Frage nach einem »rationalen Kern« von Krieg und Massenmord der geschichtspolitische Autismus aufgekündigt, der Deutschland zu einem mythischen Ursprungsland des Bösen stilisierte. Das kann es nur sein, wenn der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auf keinerlei von außen auf Deutschland einwirkende Kräfte und Interessen zurückzuführen wäre. Erschwerend hinzukommen mag das Festhalten an historischen Existenzialien und an den tragischen Zügen der Geschichte, das bei jenen Ideologen unbeliebt ist, die auf Enttäuschungen mit immer neuen unerfüllbaren Hoffnungen antworten.

Wir haben es mit Überlegungen zu tun, die besser nicht ausgesprochen werden sollen. Mit Fragen nach den Ursprüngen des Zweiten Weltkriegs und nach den vor uns liegenden Auseinandersetzungen. Mit der Wiederkehr alter geschichtsphilosophischer Antinomien in neuen Verkleidungen und wechselnden Stellungen. Diese unerhörte Beweglichkeit innerhalb des ruhigen Flusses seiner Gedanken gibt der Lektüre von Noltes Schriften einen Reiz, dem man sich schwerlich entziehen kann.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Professor Nolte hat das Wort.

Foto: Thilo Rückeis

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