Die Schule der Abwegigkeit gegen die Sinnbegradigung des Lebens.

In seinen vorangegangenen Büchern hat Michael Esders das politische „Sprachregime“ der Gegenwart entschlüsselt und den Abgrund einer Gesellschaft „Ohne Bestand“ ausgelotet. Jetzt wendet er sich in „Einhundert Expeditionen ins Eigene“ der Erfahrungs- und Wörterwelt seiner Kindheit zu. Wir sprachen mit ihm über sein neues Buch – und über den anarchischen Minimalismus der Kindheit.

Lieber Herr Esders, wer „Tapetenbewohner“ aufschlägt, bemerkt sofort, dass das Buch sich von den Vorgängern unterscheidet. Es fehlen Fußnoten, Literaturhinweise und Zitate. Es gibt keine Kapitel, sondern 100 kurze Abschnitte, die sich zum Teil wie Geschichten lesen und einen kindlichen Blick aneignen. Auch der Titel fällt aus dem Rahmen und gibt zunächst einmal Rätsel auf. Warum ist dieses Buch „anders“ geworden?  

Das Buch unterscheidet sich schon dadurch, dass das „Ich“ in besonderer Weise präsent ist. Es geht um meine Kindheit in der norddeutschen Provinz in den späten Siebziger- und beginnenden Achtzigerjahren. Aber es ist keine Autobiografie im klassischen Sinn. Ich wollte einen Aspekt herausarbeiten, der exemplarisch für die Kindheit in dieser Zeit ist. In vielem war sie noch ganz analog und hat sich zwischen Räuber-und-Gendarm, Schnitzeljagd und Völkerball abgespielt. Aber gleichzeitig kündigten sich die digitalen „Undinge“ in den ersten Atari-Computerspielen bereits an. Die greifbare, handfeste Wirklichkeit wurde von der Realität der Bildschirme und Displays verdrängt und begann sich zu verflüchtigen. Deshalb spanne ich den Bogen von den Mustern auf der Kinderzimmertapete, die sich im Dämmerlicht in Bewegung setzen, den „Tapetenbewohnern“, bis zu Pac-Man, den ich wenige Jahre später mit dem Joystick durch virtuelle Labyrinthe navigiere. Dieses analog-digitale Nebeneinander in der Kindheit um 1980 hat mich besonders interessiert. Hier lag es nahe, aus den eigenen Erfahrungen und Erinnerungen zu schöpfen.

Darüber hinaus gibt es einen stilistischen Unterschied: Die 100 Texte oder „Expeditionen“ in diesem Band sind eher erzählerisch als essayistisch-theoretisch angelegt wie die Bücher davor. Dies ist ein gewisser Bruch der Erwartungshaltung, aber ich würde keine grundsätzliche Zäsur sehen. Eher nähere ich mich den Themen, die mich seit Jahrzehnten beschäftigen, von einer anderen, spielerischen Seite.

Sprache ist ein Thema, das schon lange im Zentrum Ihres Interesses steht. Auch in „Tapetenbewohner“ gehen viele Texte von Spracherfahrungen aus – angefangen beim ersten Wort „Da“, das den Dingen wie ein „Lautlasso“ entgegengeschleudert wird. Inwiefern ermöglicht die Kindheit einen neuen Blick auf die Sprache?     

In „Sprachregime“ und auch „Ohne Bestand“ habe ich die Kanalisierung des Denkens durch Sprache untersucht. In „Tapetenbewohner“ wende ich mich der anarchischen und subversiven Seite der Sprache zu, die vor allem in der Kindheit zum Vorschein kommt. Die Welt erschließt sich über die Wörter, und zwar paradoxerweise auch und gerade in den Missverständnissen und Fehldeutungen. Die Kindheitswörter führen oft auf falsche Fährten, aber gerade dort sind Entdeckungen möglich, die auf den „Hauptstraßen“ ausgeschlossen sind. Ich fragte mich zum Beispiel, warum Lottozahlen „ohne Gewehr“ galten und malte mir aus, wie es wäre, wenn sie eines Tages ausnahmsweise „mit Gewehr“ gezogen werden würden und Waffen zum Vorschein kämen. 1977, im Jahr der Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers durch die RAF, war viel von „Terroristen“ die Rede. Als ich mit meinen Eltern auf einer Reise in Süddeutschland unterwegs war, fürchtete ich mich vor den „Touristen“, weil der Gleichklang zu suggestiv war. Mit einer anderen Verwechselung lebte ich mehrere Jahre: Es gab für mich die Farbe „Beige“, ausgesprochen wie „feige“ oder „Geige“. Diese Farbe war für mich klar von „Besch“ oder „Beesch“ unterschieden. Ich habe die Farbe in die Welt hineingesehen, bis sie daraus nicht mehr wegzudenken war.   

Sie bezeichnen die Kindheit in Ihrem kurzen Vorwort als „Schule der Abwegigkeit“. Wie ist das gemeint?

Erwachsene haben Relevanzkriterien und -filter, die – oft unbewusst – festlegen, was Beachtung verdient und was nicht. Viele dieser Filter werden durch Sprache gesteuert. Bei Kindern ist dies noch nicht oder zumindest nicht in der gleichen Weise der Fall. Die Abseitigkeit der Dinge ist noch kein Ausschlusskriterium. Für mich war beispielsweise ein kleiner und völlig unspektakulärer Kaugummiautomat vor einem Landgasthof ein Mysterium. Ich nahm einen weiten Weg auf mich, um ihn zu erreichen, und versuchte ihn mit Knöpfen und kleinen Metallscheiben zu überlisten. Ich interessierte mich weniger für die Kaugummis als vielmehr für die präzise Mechanik des Tauschvorgangs selbst. Die Dinge hatten eine physiognomische Seite, die mich anzog: Nicht nur Tapetenmuster hatten freundliche Gesichter, sondern auch Steckdosen, was mir dann zum Verhängnis wurde. Sogar Flusen hatten ein Geheimnis und wurden eine Zeit lang zum Sammelobjekt. Etwas von diesem anarchischen kindlichen Minimalismus, der später verlorengeht, wollte ich aufleben lassen.

Ein Gegenbegriff zu dieser anarchischen „Abwegigkeit“ des kindlichen Blicks auf die Welt ist die „Sinnbegradigung“, die Ihrer Einschätzung nach umfassend zu werden droht. Sind Ihre Kindheitsexpeditionen Anti-Frames?

Das Wort „Sinnbegradigung“ drängte sich mir mit Blick auf jüngste Diskussion maschineller Intelligenz, KI-gesteuerte Antwortmaschinen wie ChatGPT und die sogenannten „Large Language Models“ auf. Letztere sind sehr stark auf das Gängige und Frequentierte geeicht. Auf der Basis von Trainingsdaten wird die jeweils wahrscheinlichste Fortsetzung einer Zeichenkette oder Wortfolge errechnet. Das Konzept dahinter ist konventionell, man könnte sogar sagen hyperkonventional. Die Sprachmodelle haben eine nivellierende und planierende Tendenz – das meine ich mit „Begradigung“. Die Erinnerungen und Erfahrungen, von denen ich ausgehe, sind zu entlegen, vielleicht auch exzentrisch, um in diesen Modellen repräsentiert zu werden. Es wird deutlich, dass das Unverfügbare, Unwiederholbare der Erfahrung durch das Raster der KI-Modelle fällt. „Anti-Framing“ trifft es ganz gut. Aber ich möchte die Texte auch nicht mit Theorie überfrachten. Sie sind, was sie sind.

Es geht um eine ländliche Kindheit in Norddeutschland mit „Gülleregenbogen“ und „Maislabyrinth“, in dem Sie sich absichtlich verlaufen. Wie wichtig ist der Bezug zur Landschaft und Region?    

Die Erinnerungen sind in einem nicht nur zufälligen Sinn ortsgebunden. Dies wird zum Beispiel in der plattdeutschen Färbung vieler Spracherfahrungen deutlich, die ich schildere. Man könnte sogar von Ortungsversuchen sprechen. In einem Text geht es um die A1 in der Nähe meines Wohnorts. Die Autobahn war eine Art Weltkoordinate für mich. Wenn im Radio davon die Rede war, fühlte ich mich angesprochen. Vom Dachfester aus beobachtete ich lange die Lichterketten der vorbeifahrenden Autos. Manchmal suchte ich nach einem verirrten gegenläufigen Licht, einem Geisterfahrer, um der Meldung des Verkehrsfunks zuvorzukommen. Wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung kam, klang das Motorengeräusch wie eine ferne Brandung. Dies war mein Einschlafgeräusch. Solche Erfahrungen sind nicht nur Lokalkolorit. Sie wären im digitalen Überall und Nirgendwo gar nicht möglich.

Ein kleiner Blick in die Werkstatt: Wie und unter welchen Umständen ist das Buch entstanden?

Die Stücke sind über einen sehr langen Zeitraum neben anderen Arbeiten entstanden. Die Initialzündung waren in vielen Fällen Erinnerungssplitter und Déjà-vus. Die kurze Prosaform spiegelt das Abrupte, manchmal auch Abgerissene der Erinnerung wider, das kein durchgängiges Erzählen zuließ. Es kamen mit der Zeit neue Texte hinzu, andere habe ich wieder verworfen, weil sie mir unpassend erschienen. Einiges habe ich mehrfach überarbeitet und weiter zu verdichten versucht. In den vergangenen zwei, drei Jahren sind viele neue Stücke entstanden. Wohl auch deshalb, weil ich den Wunsch hatte, das düstere, manchmal auch trostlose Terrain der politischen Bestandsaufnahmen zumindest zeitweise zu verlassen. So gesehen sind die Kindheitstexte auch kleine Fluchten. 

Inwiefern hat sich die Kindheit heute geändert? Ist der Minimalismus, von dem Sie sprechen, generationstypisch? 

Dass eine solche Kindheit heute nicht mehr möglich ist, hat mit der fundamental veränderten Erfahrungs- und Lebenswelt der Kinder heute zu tun, die schon sehr früh und in weiten Teilen digital ist. Der unmittelbare, handgreifliche, taktile Zugang zur Realität, der zu meiner Zeit noch die Grundlage für alles war, wird zu einer immer selteneren Ausnahme. „We are everyday robots on our phones“, heißt es in einem Song des britischen Musikers Damon Albarn, der Hybridisierung der Sinne gut beschreibt. Die via TikTok und Snapchat etc. „geteilte“ Wirklichkeit ist realer als real, was eine Entwertung der „ungeteilten“ Aufmerksamkeit zur Folge hat. Die Dinge erscheinen nicht mehr als Rätsel, weil die Lösung in Echtzeit von digitalen Helfern apportiert wird. Die Antworten kommen den Fragen zuvor. Hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeitsspanne im Dauerfeuer der Memes und Reels viel zu kurz für die von mir nachgezeichneten Gedankenexpeditionen ist. Die Wirklichkeit des Wirklichen hat den Aggregatzustand gewechselt. Mein Ziel war es nicht, diese Entwicklung kulturkritisch oder verfallstheoretisch nachzuzeichnen. Ich wollte auch keine Abhandlung darüber schreiben. Es ging mir um die Intensität einer unwiederholbaren Erfahrung.

Vielen Dank für das Gespräch!

Michael Esders: Tapetenbewohner

Einhundert Expeditionen ins Eigene.

Michael Esders erkundet die Wörter- und Dingwelt seiner Kindheit in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Touristen erscheinen als Terroristen, und der Vater »Herrmann« hat ein Denkmal im Teutoburger Wald. In den Telespielen breiten sich primitive Frühformen des Digitalen aus, die bald schon die analoge Wirklichkeit verblassen lassen. Die sprachlich verdichteten Erinnerungs- und Denkbilder dieses Buchs finden sich damit nicht ab. Sie lassen die Wörter und Dinge von damals noch einmal aufleuchten. Ein Aufstand gegen die Sinnbegradigung der Welt. 

Michael Esders: Ohne Bestand

Angriff auf die Lebenswelt.

Die westlichen Gesellschaften zerstören ihre Bestände rückstandslos. Wo man lange Zeit noch Fahrlässigkeit im Transformationsrausch vermuten konnte, steht Vorsatz nun außer Zweifel. Das Hygieneregime seit 2020 und die „Neue Normalität“ im endlos verlängerten Notstand sind nur der verheerendste Angriff in einer langen Reihe.

Interview mit Micheal Esders zu Ohne Bestand.

Michael Esders: Sprachregime

Die Macht der politischen Wahrheitssysteme.

Michael Esders inspiziert das Schlachtfeld der Begriffe und Metaphern, das sich auf alle Lebensbereiche ausgeweitet hat. Der Literaturwissenschaftler dechiffriert die „Wahrheitssysteme“ (Michael Kretschmer) der deutschen Politik, die sich über alle diskursiven Gepflogenheiten hinwegsetzen. Er entziffert die Narrative der Willkommenskultur und des menschengemachten Klimawandels, in denen Haltungen über den Common Sense, Mythen über Theorien triumphieren.

Interview mit Michael Esders zu Sprachregime.

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