Die Rom-Idee als treibende Kraft der abendländischen Entwicklung.

Das neue Buch von Dr. Frank Lisson, »Rom im Banne deutscher Identität« , folgt der Entwicklung der Rom-Idee im Abendland und stellt ihren Einfluß insbesondere auf die deutsche Geschichte dar. Der Hang der Deutschen zur Latinität war zwar zunächst an die kirchliche Überlieferung gebunden, spätestens aber mit Aufblühen des Humanismus in Deutschland immer stärker an einem römisch-heidnisch-antiken Bezugsrahmen ausgerichtet. Dr. Lisson beleuchtet Gründe und Folgen davon und zeigt in seiner fulminanten Studie, dass wir auch heute noch an die ethnische und geistige Substanz unserer geschichtlichen Tradition anknüpfen können.

Lieber Dr. Lisson, nach Ihrer voluminösen Studie Griechentum und deutscher Geist haben Sie nun eine Art Ergänzung oder Erweiterung vorgelegt, die das deutsche Verhältnis zum Römertum betrifft. Warum erschien Ihnen das notwendig?

Wer die verhängnisvolle Entwicklung des Abendlandes samt dessen heutigen Auflösungsbestrebungen verstehen will, muss bei der Frage nach der Beschaffenheit der geistigen Grundlagen dieser Kultur ansetzen. Und tatsächlich enthält besonders die deutsche Antikenrezeption eine Menge Hinweise auf das von Anfang an gestörte Verhältnis der postantiken Europäer zu sich selber; Ansätze zur Erklärung der kulturellen Dauermisere mit allen ihren politischen Folgen nach 1900, die bisher kaum beachtet worden sind. Neben dem aufschlussreichen Phänomen der deutschen Sehnsucht nach Hellas, spielt die kulturelle Abhängigkeit von Rom für die Tragik der »deutschen Seele« eine ebenso schwerwiegende Rolle wie die religiöse Abhängigkeit vom Judentum: ein Aspekt, den ich in einem dritten Teil, Abendland und Orient, als Abschluss jener deutsch-europäischer Herkunftsproblematik zu erhellen versuche. Denn die kulturellen Fundamente, auf denen das Abendland und die deutsche Bildung basierten: Judentum, Römertum, Griechentum, waren nicht nur aufgrund ihres »Adoptionsverhältnisses« von Beginn an extrem brüchig. Dieser komplizierte Bau brach bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in sich zusammen und löste dadurch jene geistigen Eruptionen aus, die in die heutige Selbstauflösungsmentalität geführt haben.   

Wie schon im Griechentum haben Sie nun auch im Rom-Buch tiefe Einblicke in die Bemühungen der deutschen Altertumswissenschaft um Identitätsbildung gewährt und dabei anhand reichhaltigen, zumeist kaum bekannten Quellenmaterials zugleich das Scheitern dieser Bemühungen aufgezeigt. Wie erklären Sie sich, dass trotz der vielen gewichtigen Gedanken, die beide Bücher enthalten, das Griechentum bisher quasi ohne Resonanz geblieben ist? 

Zum einen liegt das sicher daran, dass Bücher, die in »alternativen« Verlagen erscheinen, auch nur von »alternativen« Medien wahrgenommen werden, wo jedoch leider oft das Interesse an kulturpsychologischen Hintergrundanalysen, vielleicht auch die nötige Kennerschaft fehlt. Es ist freilich sehr zu bedauern, dass selbst in konservativen Kreisen die Bereitschaft stark geschwunden zu sein scheint, sich mit substantiellen Fragen der deutschen Bildungs- und Kulturgenese gründlicher auseinanderzusetzen. Dadurch wird es umso schwieriger zu verstehen, was in solchen Büchern überhaupt gesagt wird und welche Not dazu geführt hat, sie zu schreiben.  

Im Rom-Buch stellen Sie viel mehr Gegenwartsbezüge her als im Griechentum, wodurch das Buch in seinen Aussagen »aktueller« erscheint.

Ja, im Griechentum findet sich vorrangig der Zeitraum zwischen 1760 und 1860 behandelt, also die Phase der eigentlichen deutschen »Gräkomanie« in ihrer ganzen Intensität, die, so plötzlich sie begonnen hatte, auch wieder erlosch. Der Rom-Gedanke greift dagegen viel weiter in die deutsche Geschichte, da er nicht nur (wie die Liebe zu Hellas) die Bildung erfasste, sondern über das Lateinische als Kirchen- und Wissenschaftssprache, aber auch als Translatio imperii deutlicher im Gesamtbewusstsein verankert war. Darum hat er sich auch als verhängnisvoller erwiesen. Roms stellte das Zentrum des Christentums dar, die neuhumanistische Begeisterung für Hellas gewissermaßen das Gegenstück dazu. Als Reaktion auf Rom war der Protestantismus entstanden, also der Antrieb zur deutschen Philosophie und Philologie, den beiden großen »Unruhestiftern«, schließlich auch Desillusionierern und damit Wegbereitern in den übermodernen Nihilismus.   

Woran liegt es, dass die einstige überragende Bedeutung des Altertums für die deutsche Bildung und Kultur aus dem allgemeinen Bewusstsein so gut wie verschwunden ist?

Das hängt sicher mit der Verdichtung der Zeiterfahrung und dem Ereignisreichtum des 20. Jahrhunderts zusammen. Da die digitale Informationsflut niemand verkraften kann, will jeder alles sofort wissen, sich aber nichts selber erarbeiten. Oft fehlt es schlicht an Konzentrationsvermögen, aber auch an Neugier. Man beschränkt sich darauf, vor allem das zu erfahren, was man ohnehin schon weiß. Und wenn dies auch noch mundgerecht und pikant gewürzt serviert wird – umso besser. Die Beschäftigung mit den großen kulturgeschichtlichen Hintergründen erfordert dagegen Geduld und führt zu weit vom Tagesgeschehen weg, das in sich schon komplex genug ist. Selbst für die meisten Konservativen hat ein Traditionsbruch stattgefunden: größere Zusammenhänge interessieren dort am wenigsten, wo sie zu unerwünschten Ergebnissen führen könnten. Dabei vergisst man gern, dass die deutsche Altertumswissenschaft und Philologie die Herzstücke jener deutschen Bildung waren, der man heute so oft nachtrauert. Doch wer die Reste des Abendlandes schützen will, sollte wissen, woran es zugrunde gegangen ist.

Wir danken für das Gespräch!

Frank Lisson: Rom im Banne deutscher Identität

Geschichte eines Verhängnisses.

Das Buch folgt der Rom-Idee in ihrem Werdegang. Fast sämtliche der herausragenden deutschen Geistesmenschen zwischen 1750 und 1900 strebten nach der Größe einer Existenzform, die ihnen zufolge jenseits abendländischer Verbundenheiten und Herkunftslinien lag, nämlich in einem Land, das mit der »Seele« zu suchen sei, wo es »ganz anders« zuging als im »modernen« Europa, wo also nicht nur die vermeintliche »edle Einfalt und stille Größe« herrschten, sondern auch und vor allem die Vornehmheit unverdorbener Mentalität, wie sie nur in antiken, griechisch-römischen Vergangenheiten sichtbar geworden sei.

Frank Lisson: Griechentum und deutscher Geist

Anatomie einer Sehnsucht.

Ab dem 18. Jahrhundert wurde unter deutschen Neuhumanisten die Idee zur Forderung erhoben, daß es einen höheren menschlichen Sinn jenseits des bloß Utilitaristischen und Opportunen geben müsse. Und man meinte, daß diese Forderung oberste pädagogische Priorität zu genießen habe. Darin bestand die vielleicht bedeutendste deutsche Mission zum Wohle Europas, die freilich von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Frank Lisson: Die Natur der Dinge

Über das Wesentliche.

Was weiß der Mensch über den Menschen? Was weiß Natur über sich selber? Was wissen die Dinge voneinander? – Wo die Welt für den Menschen bloß die Kulisse seiner Bedürfnisse und Phantasien abbildet, sie für ihn vor allem der Schauplatz seiner eigenen Überlebensstrategien und der Aufenthaltsort zum Ausleben primärer Instinkte ist, erscheint es umso notwendiger, einmal rigoros nach der Natur der Dinge zu fragen.

Frank Lisson: Mythos Mensch

Eine Anthropodizee.

Jeder Mensch ist in sich selber ein einziger geschlossener Mythos. Und folglich ist er es auch allen anderen. Die Welt stellt sich ihm dar als eine große, alles Mögliche umfassende Erzählung, worin seine Individualität gar nicht vorkommt, weshalb er sich in das große Weltgedicht erst selbst hineinerzählen muss – und die Fabeln seiner Schöpfung gleich mit. Durch den Willen zur Mythologie wurde der Mensch zugleich das Produkt seiner Mythen; eine Verbindung, die sich immer fester knüpfte, je mehr der Mensch in seinen Geschichten vom Menschen aufging. Denn das Erzählen der Welt fängt die Welt nicht ein, sondern bildet sie nur ab – und sieht ihr hinterher. 

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